Neue brutale Flüchtlingsroute über Belarus: An der Grenze zu Polen sterben Menschen
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Endpunkt der Belarus-Route: Die zentrale Erstaufnahme des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt ist bereits überfüllt.
© Quelle: Getty Images
Eisenhüttenstadt/Forst/Warschau/Brüssel. Dîlovan hat es geschafft. Es war eine lange Reise für seine Frau, die drei kleinen Kinder und ihn. Sie hätten scheitern können, zurückgewiesen von den Grenzern. Sie hätten in Lebensgefahr geraten können, wie die Migranten, die im Niemandsland zwischen Belarus und Polen festsitzen, bei ständig sinkenden Temperaturen, ohne Wasser und Essen. Dort, in der Puszcza Bialowieza, ist Dîlovans Familie auch durchgekommen, drei Tage zu Fuß, über den Stacheldraht und weiter nach Westen.
Sie hatten Glück, sagt der schmale 39-Jährige. In Daunenjacke und Jogginghose steht der Kurde aus dem Irak auf der Wiese zwischen den Containerbaracken in der zentralen Erstaufnahme für Asylbewerber in Eisenhüttenstadt an der deutsch-polnischen Grenze. An der Hand hält er seine beiden älteren Kinder, die Mädchen sind sechs und drei Jahre alt. Der Jüngste, 17 Monate alt, ist bei der Mutter in der Containerbaracke.
Die Strecke durch das belarussisch-polnische Grenzgebiet war der beschwerlichste und gefährlichste Teil ihrer Flucht. Der Rest gleicht eher einer komplizierten Reise, man kann sie buchen in einer Reihe von Reisebüros in Nahost. Der polnische Grenzschutz führt ihre Namen in einem Dossier auf, das zeigen soll, wer an der neuen Fluchtroute verdient und wer sie kontrolliert: Alexander Lukaschenko, der Diktator in Minsk.
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Dîlovan aus Kurdistan und seine beiden Töchter in der Erstaufnahme für Asylbewerber in Eisenhüttenstadt
© Quelle: Jan Sternberg
Dîlovan und seine Familie flogen zunächst aus dem Irak nach Beirut, bestiegen dort eine Maschine nach Minsk, wurden zur Grenze gefahren und machten sich von dort auf in die Europäische Union. Mit dem Zug kamen sie von Polen über die Oder. Am Grenzbahnhof Frankfurt (Oder) wurden sie von der Bundespolizei kontrolliert und beantragten Asyl. Seit vier Wochen sitzen sie nun in Eisenhüttenstadt.
In Europas Osten hat sich eine neue Flüchtlingsroute etabliert. Seit dem Sommer lockt Lukaschenko Menschen aus dem Nahen Osten und Afrika nach Minsk, verspricht ihnen eine Weiterreise in die Europäische Union. Für Belarus ist das eine Devisenquelle: 5000 bis 7000 Euro zahle jeder Migrant für die Route, schätzen deutsche Sicherheitsbehörden.
Übermannshoher Stacheldraht ausgerollt
Hunderte überqueren jeden Tag die ehemals grüne Grenze zwischen Belarus und Polen. Inzwischen ist hier übermannshoch Stacheldraht ausgerollt, drei Rollen scharfkantiger Nato-Draht übereinander. Auf dem Postenweg auf polnischer Seite fährt im Schritttempo ein Jeep mit Lautsprecheranlage vorbei: Eine aufgezeichnete Ansage auf Englisch, Französisch, Arabisch und Persisch soll diejenigen warnen, die sich in den Bäumen und Sträuchern auf der anderen Seite versteckt halten: „Das Überqueren der Grenze ist illegal und gefährlich! Gehen Sie zurück!“ Doch selbst wenn die Menschen wollten, sie könnten nicht wieder zurück, werden von Lukaschenkos Grenzern immer wieder nach vorne getrieben.
Nach Angaben des polnischen Innenministeriums sollen belarussische Grenzer für die Migranten sogar unbewachte Grenzabschnitte mit Drohnen ausspähen und die Gruppen auf Lücken im Stacheldraht hinweisen, um sie möglichst schnell loszuwerden. Von dort sei es nicht mehr weit nach Deutschland, wird ihnen von Lukaschenkos Beamten gesagt.
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Usnarz Gorny in Polen im August: Afghanische Flüchtlinge, die an der polnisch-belarussischen Grenze festsitzen, warten in einem behelfsmäßigen Lager.
© Quelle: Attila Husejnow/SOPA Images via
An der Grenze gilt der Ausnahmezustand, Journalisten und Helfer dürfen nicht dokumentieren, was dort geschieht. Berichte über mutmaßlich illegale Pushbacks gibt es dennoch – polnische Grenzschützer sollen Migranten wiederholt zurück auf die andere Seite drängen. Es gibt bereits Tote: Menschen sind unterkühlt, entkräftet, sie trinken schmutziges Wasser und essen Pilze.
Seit dem Sommer steigen die Zahlen der festgestellten Grenzübertritte zwischen Belarus und Polen stark an. Die direkte Route Richtung Westeuropa begann im August an Bedeutung zuzunehmen. Da wurden 3500 Menschen gezählt, im September schon 7500, in der ersten Oktoberwoche bereits wieder 3200 Personen, die die eilig verstärkten Barrieren überwanden.
Die Polizeiberichte umfassen die nackten Zahlen
Polen wollen die meisten nur durchqueren. An der deutschen Ostgrenze kommen die Flüchtenden mit Verzögerung an. 713 Menschen griff die Bundespolizei im August auf, rund 2000 im September, in den ersten paar Tagen des Oktober waren es nach RND-Abfragen bereits mehr als 1000.
Die Polizeiberichte erfassen die nackten Zahlen, sie lassen die Umstände nur erahnen. Ein Anwohner meldet eine größere Gruppe Menschen in einem Waldstück bei Tantow in der Uckermark, die Bundespolizei schickt einen Hubschrauber, entdeckt 41 Iraker, die um Asyl bitten. Sie geben an, von Schleusern bis an die Grenze gebracht worden und zu Fuß über die Grenze gekommen zu sein.
Nachts in Küstrin-Kietz drängen sich zwölf Syrer auf der Ladefläche eines Transporters, der Fahrer wird als Schleuser festgenommen. In Groß Gastrose an der Neiße bringt die Reiterstaffel der Bundespolizei fünf Flüchtende aus dem Jemen auf. Abends in Guben ruft ein Vater aus dem Irak selbst die Polizei, er ist gerade mit seiner Frau und zehn kleinen Kindern über die Grenze gekommen und weiß nicht mehr weiter.
Manchmal öffnen Bundespolizisten die Ladetüren eines Kleintransporters, die Menschen auf der Ladefläche, darunter Babys und Kleinkinder, sind völlig dehydiert. Eine Erinnerung an 2015 liegt über allem.
„Den Menschen, die im August und September zu uns kamen, ging es zum Teil sehr schlecht“, sagt Olaf Jansen, Leiter der Erstaufnahme in Eisenhüttenstadt. „Inzwischen kommen mehr Familien, das ist immer ein Zeichen dafür, dass sich die Route verstetigt.“
Am Rand der Erstaufnahmeeinrichtung stehen 15 tarnfarbene Großzelte, in einigen sind Feldbetten aufgebaut, große gelbe Heizschläuche winden sich um die Zeltbahnen. Hier sollen sich die Neuankömmlinge erst einmal ausschlafen, bevor sie auf die Häuser und Container verteilt werden. Sie werden registriert, auf Corona und andere ansteckende Krankheiten getestet, die Fingerabdrücke überprüft.
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In der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt werden neu ankommende Asylsuchende auf Covid getestet.
© Quelle: Fabian Sommer/dpa
Das kann dauern, denn es fehlt an allem: Computern, Dolmetschern, Personal. Andreas Roßkopf, Vorsitzender der Abteilung Bundespolizei der Polizeigewerkschaft GdP, beklagt die „mangelnde Ausstattung und Organisation“ und verweist auf die Erfahrungen seit 2015 an der Südgrenze.
Dîlovan und seine Familie sind nun seit einem Monat in Eisenhüttenstadt. „Hier gibt es nichts zu tun“, klagt er. „Es gibt keine Spielsachen für die Kinder, keinen Fernseher, wir können nichts machen.“ Olaf Jansen schildert die Situation als angespannt, aber friedlich. „Wir haben kaum Auseinandersetzungen“, sagt er. Demnächst soll sogar ein Zirkus auf dem Gelände auftreten.
Das Credo des deutschen Beamten lautet: „Man kann Migration nicht verhindern. Man kann sie nur organisieren.“
Und organisiert wird, zum Beispiel 50 Kilometer südlich von Eisenhüttenstadt in der Grenzstadt Forst: Dort hat Heimleiterin Barbara Domke gerade eine seit 2017 geschlossene Unterkunft für Geflüchtete wieder eröffnet. Kinder schaukeln auf der verwitterten Schaukel, Helfer tragen Kuscheltiere, Wäscheständer und einen Fernseher ins Haus.
Als Nächstes will Domke Kontakt zur Kirchengemeinde aufnehmen, die in den Jahren nach 2015 Frauen Alphabetisierungskurse anbot. Sie beklagt sich, dass ausgerechnet jetzt die Landesregierung die Hilfen für Kurse und psychologische Betreuung kürzt. Vor der Tür des Flachbaus sitzt Rezaie, ein Juwelier aus Kandahar. Er hofft nach sechs Jahren Flucht vor allem auf Bildung für seine drei Kinder.
700 Kilometer weiter östlich hat die polnische Staatsführung ein anderes Credo. „Die von Belarus geöffnete Migrationsroute ist eine gut konstruierte Maschine“, sagte jetzt ein Sprecher des polnischen Innenministeriums. Sie sei nur zu stoppen, „indem wir die Grenze dicht verschließen“. Jaroslaw Kaczynski, Vorsitzender der nationalkonservativen Regierungspartei PiS, kündigte den Bau einer „sehr ernsthaften Sperre an“. Polen gehörte folgerichtig auch zu den zwölf EU-Staaten, die Ende vergangener Woche Zuschüsse für den Bau „physischer Barrieren“ an den Außengrenzen forderten.
Die Unterstützung der EU-Grenztruppe Frontex sei hingegen unnötig. Kritiker sagen, Polen verweigere auch Frontex den Zutritt, um das Vorgehen an der Grenze nicht international überwachen zu lassen. Frontex teilte auf RND-Anfrage mit, dass die Agentur nicht an Einsätzen an der polnisch-belarussischen Grenze beteiligt ist und deshalb auch keine Aussagen zu Migrationsstatistiken oder zur aktuellen Situation an diesem Grenzabschnitt treffen könnte. Auf die Frage, ob die Einsätze polnischer Grenzschützer im Einklang mit EU-Recht verlaufen, verwies Frontex auf die Europäische Kommission, die für diese Bewertung zuständig sei.
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Ein Schuh wird auf dem Stacheldraht auf dem Gelände eines Flüchtlingslagers in Polen an der Grenze zu Belarus getrocknet.
© Quelle: imago images/SNA
Die EU hat indes kaum Möglichkeiten, die staatlich sanktionierte Schleuserei in Belarus zu verhindern. Sie setzt darauf, dass sich die Regierungen in Herkunftsländern der Flüchtlinge überzeugen lassen. So sei die Zahl der Migranten, die über Belarus illegal in die EU gelangten, zuletzt wieder deutlich zurückgegangen, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson vor ein paar Tagen.
Der Grund: Es gingen etwa keine Flüge mehr aus der irakischen Hauptstadt Bagdad nach Minsk. Johansson hat nun Emissäre nach Afrika geschickt. Sie sollen dort sondieren, ob es möglich ist, auch Flüge aus dem Kongo und Kamerun Richtung Belarus zu streichen. Was sie nicht sagt: Die staatliche Fluggesellschaft Belavia fliegt jetzt nicht nur nach Beirut, sondern auch verstärkt in die Türkei. Auch auf diesen Routen transportiert sie höchstwahrscheinlich nicht nur Badetouristen.
Mittlerweile hat die EU vier Sanktionspakete gegen das Regime von Lukaschenko geschnürt. Doch Einreiseverbote für Funktionäre und gesperrte Konten in der EU haben den Machthaber in Minsk nicht beeindruckt. Das Europaparlament forderte jetzt mit großer Mehrheit, ein fünftes Sanktionspaket auf den Weg zu bringen. Auch müsse der wirtschaftliche Druck auf Lukaschenko erhöht werden, verlangten die Parlamentarier vergangene Woche in Straßburg.
Bislang gibt es Handelsbeschränkungen und Lieferverbote für Mineralölerzeugnisse, Pottasche und Geräte, mit denen Lukaschenkos Regime das Internet und Telefongespräche in seinem Land abhören könnte. Experten in Brüssel zweifeln jedoch, ob schärfere Sanktionen Lukaschenkos Regime davon abbringen werden, weiter Migranten Richtung EU zu schicken. Die Forderung des Parlaments, Lukaschenko beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anzuklagen, dürfte in Minsk ebenfalls für wenig Aufregung sorgen.
In der Puszcza Bialowieza beginnen die Nachtfröste. Beobachter befürchten eine humanitäre Katastrophe im Grenzgebiet. Die Aktivistin Maria Zlonkiewicz sagt: „Wir appellieren an die polnische Regierung, Ärzte und Sanitäter an die Grenze zu lassen. Sonst werden wir im Frühjahr viele Leichen finden.“