Peter Steudtner zu Türkei: “Trage die Haft in meinem Gefühlsrucksack mit mir herum”
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Der Berliner Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner (l.) war Mitglied der sogenannten "Istanbul 10". Diese zehn Menschen wurden in der Türkei mehrere Monate inhaftiert und wegen der angeblichen Teilnahme an terroristischen Organisationen angeklagt. Im RND-Interview gibt Steudtner Einblicke, mit welchem Kalkül die türkischen Justiz handelt.
© Quelle: wikimedia/imago/Christian Mang/RND Montage Behrens
Berlin. Der deutsche Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner, 48, und weitere Menschenrechtler wurden Anfang Juli 2017 bei einem Workshop auf der Insel Büyükada vor der Küste Istanbuls unter Terrorverdacht festgenommen. Nach der ersten Anhörung im Oktober 2017 kamen Steudtner und die anderen frei. Er reiste aus, die Anklage blieb jedoch bestehen. Der Prozess gegen Steudtner, der in Berlin lebt, und die #Istanbul10, wurde im Februar verschoben und im April erneut.
Herr Steudtner, der Prozess gegen Deniz Yücel wurde, wie zuletzt auch der Prozess gegen Sie, vertagt. Doch unabhängig davon saßen zuletzt immer noch 65 Deutsche in türkischer Haft. Wie nehmen Sie angesichts dessen die Situation wahr?
Die Situation ist immer noch menschenrechtlich sehr gefährdet. Dabei geht es mir aber nicht nur um die Deutschen, sondern um Tausende Menschen, die in der Türkei ohne Grund in Haft sitzen. Sie sind massiv bedroht. Diese Bedrohung steigt noch einmal durch das Coronavirus. Ich habe Kontakt zu Betroffenen und ihren Familien. Dabei merke ich, wie stark Solidarität trägt. Allein das Interesse stärkt die Familien vor Ort.
Wird von deutscher Seite genug für die Inhaftierten getan?
Gerade die Verknüpfung von wirtschaftlichen Interessen und Menschenrechten ist ein Feld, auf dem wir in Deutschland noch viel mehr tun könnten – auch vonseiten der Politik. Es bräuchte da klarere Botschaften. Da ist Spielraum nach oben. Man sollte Bürgschaften für deutsche Unternehmen an die Umsetzung von Menschenrechten in der Türkei knüpfen. Deutsche Unternehmen selbst sollten überlegen, ob das Wirtschaften in der Türkei in Einklang steht mit ihren ethischen Grundlagen.
Das heißt, Sie raten dazu, wirtschaftliche Kontakte im Zweifel zu beenden?
Nein, es ist sicher sinnvoll, im Kontakt zu bleiben. Sonst kann man keinen Druck ausüben. Aber die deutsche Seite sollte klar machen: Größere Investitionen in der Türkei und Kooperationen mit der Türkei gibt es nur, wenn sich die menschenrechtliche Situation massiv verbessert.
Ihr eigener Prozess ist wie gesagt verschoben worden. Wann geht es weiter?
Der Prozess gegen uns elf Betroffene soll am 3. Juli in Istanbul fortgesetzt werden. Theoretisch müsste es für uns alle einen Freispruch geben. Die Staatsanwaltschaft hat jedoch Hafturteile gegen sechs von uns elf gefordert. Das ist unannehmbar. Gleichzeitig sehen wir, dass Verfahren vertagt werden – wie jetzt das Verfahren gegen Deniz Yücel. Das könnte bei uns auch wieder passieren. Die Vertagungen gehorchen einer Strategie der Repression. Sie dienen dazu, den finanziellen Aufwand zu erhöhen und die Belastung aufrecht zu erhalten. Das hält uns nicht davon ab, weiter Menschenrechtsarbeit zu machen. Aber natürlich ist das zum Teil zermürbend.
Zermürbt es Sie auch?
Es zermürbt mich nicht. Aber es kostet Kraft. Und es fallen zusätzliche Kosten an. Die Anklage auf Terrorunterstützung macht die Arbeit im Menschenrechtsbereich zudem nicht leichter. Denn wir wissen, dass das türkische Justizministerium über Interpol auch auf Menschen außerhalb der Türkei zugreift. Das könnte uns ebenfalls passieren. Deshalb sind wir extrem vorsichtig.
Haben Sie Ihre Haft eigentlich überwunden?
Ich trage die Haft in meinem Gefühlsrucksack mit mir herum. Außerdem gibt es viel solidarisches Fühlen mit all jenen, die noch in Haft sitzen oder denen Haft droht. Solche Haftzeiten sind anstrengend auf Jahre hinaus, auch für meine Umgebung – zumal der Prozess ja weitergeht.
Und jetzt hoffen Sie auf Freispruch.
Wenn das Rechtssystem in der Türkei noch irgendwie funktioniert, dann müssten wir am 3. Juli frei gesprochen werden.