Polen plant Bau von Atomkraftwerken: Wie gefährlich ist das für Deutschland?
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Die Bauruine des Atomkraftwerks Zarnowiec (Polen). In der Nähe will Polens Regierung ein neues AKW bauen lassen.
© Quelle: Michal Kotas
Berlin. Polens Pläne zum Neubau von Atomkraftwerken an der Ostsee sorgen für Streit in Europa – und innerhalb der deutschen Bundesregierung. Denn während die polnische Regierung behauptet, selbst im Katastrophenfall würde keine Gefahr für die Nachbarstaaten ausgehen, zeigt ein neues Gutachten nun: Die Wohnorte von bis zu 1,8 Millionen Menschen in Deutschland müssten im schlimmsten Fall für ein Jahr evakuiert werden, wenn es am geplanten Standort zu einem schweren AKW-Unfall kommen würde.
Erstellt haben die Studie, die dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vorliegt, fünf Umwelt- und Nuklearexperten, unter anderem von der Universität Genf, dem Biosphäreninstitut in Genf und der Organisation IPPNW Schweiz in Luzern, im Auftrag der Grünen. Grundlage für die Projektionen sind Wetterdaten der vergangenen drei Jahre.
Von GAU wären 4,5 Mio. Menschen betroffen
Demnach wären in drei Viertel der möglichen Wetterbedingungen die Nachbarstaaten stärker von radioaktiver Strahlung nach einem GAU betroffen als Polen selbst. Insgesamt wären nach einem Unfall der höchsten Kategorie laut der Studie rund 4,5 Millionen Menschen in ganz Europa erhöhter radioaktiver Strahlung ausgesetzt.
Nach Deutschland käme der Fallout in einem Fünftel der Simulationen, also mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent.
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Ein Satellitenfoto zeigt das Atomkraftwerk Fukushima I wenige Sekunden nach einer Explosion in Reaktor 3 im März 2011.
© Quelle: DigitalGlobe
Der nach dem Super-GAU im japanischen Fukushima angewendete Grenzwert für längerfristige Evakuierungen, 20 Millisievert pro Jahr, würde im schlimmsten – unwahrscheinlichen – Fall vor allem die südliche und westliche Umgebung von Berlin sowie den Nordosten von Hamburg erreichen.
Geht man nicht vom schlimmstmöglichen Verlauf nach einem Super-GAU aus, sondern eher vom Durchschnitt, müssten immerhin noch fast 200.000 Menschen in Deutschland ihre Häuser für mindestens ein Jahr verlassen.
Die polnische Regierung bestreitet das. Sie forciert derzeit ihr Atomprogramm, das den Bau von ein bis zwei neuen Kraftwerken – nach einigen Verschiebungen – bis etwa 2033 vorsieht und das von den USA technisch unterstützt wird.
Die Pläne wurden 2011 fast einstimmig vom Parlament verabschiedet, auch weil Polen sich bislang einseitig auf Kohle stützt und bislang große Mengen Strom importieren muss.
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Die Bauruine des Atomkraftwerks Zarnowiec (Polen).
© Quelle: Jan Jerszynski
Polen gehört damit zu den wenigen Staaten, die neue Atomkraftwerke planen. Die Jahresbilanz der Internationalen Atomenergie-Agentur für 2020 listet fünf neue AKW auf, die ans Netz gingen, während sechs alte abgeschaltet wurden und die Atomstromproduktion nahezu stagniert.
Der Grund: Atomstrom ist längst deutlich teuer als die Konkurrenz aus Erdgas, Solar- und Windkraft. Neue Reaktoren bauten Staatskonzerne oder stark subventionierte Firmen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Belarus, China und Russland.
Erstes AKW-Projekt 1989 eingestellt
Polens erstes Atomprojekt war 1972 aufgenommen, aber nach der Katastrophe von Tschernobyl, aufkommenden Protesten und der politischen Wende von 1989 eingestellt worden – auch wegen Sicherheitsbedenken.
Wo seitdem die Bauruine verwittert, plant die aktuelle Regierung nun ein bis zwei neue Reaktoren: Am See Jezioro Żarnowieckie, in den Städtchen Żarnowiec und Kopalino, etwa 50 Kilometer nordwestlich von Danzig – und rund 450 Kilometer von Berlin entfernt.
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Ein schweizer Gutachten zeigt: Im schlimmsten Fall erreicht die Strahlung nach einem GAU im polnischen Zarnowiec-Kopalino auch Berlin und Hamburg. In der Umgebung kann sie sogar 20 Millisievert überschreiten (hier hellgrün gefärbt), also den Wert, ab dem in Fukshima für mindestens ein Jahr evakuiert wurde.
© Quelle: Frédéric-Paul Piguet et al.
Das schweizer Gutachten belegt nun, was Polen bislang leugnet: Gegenüber dem zuständigen Büro zur Abstimmung von Umweltauswirkungen in Grenzregionen, der „ESPOO-Convention“ mit Büro in Genf, hatte Warschau angegeben, dass die Nachbarstaaten nicht von seinen Plänen betroffen seien – also eine Konsultation mit Deutschland oder gar eine Anhörung deutscher Anwohner unnötig sei.
Während der staatliche Energiekonzern PGE vor Ort drei Infozentren betreibt, um die Bewohner von den hohen Sicherheitsstandards der Anlage zu überzeugen und der Region 50.000 neue Arbeitsplätze zu versprechen, werden die deutschen Nachbarn nicht informiert.
Wiener Regierung intervenierte in Polen
Anders als etwa die Regierung im ebenfalls betroffenen Österreich hat Deutschland das bislang ignoriert. Obwohl Polen die Regierung in Wien ebenso wenig informierte, als es 2019 seine Energieplanung für 2040 vorstellte, brachte sich Österreich aktiv ein.
Dieses verbriefte Recht der Anrainer nimmt Deutschland bislang nicht in Anspruch – obwohl das Umweltministerium hinter den Kulissen dafür Druck auf das zuständige Wirtschaftsministerium ausübt.
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Die Vorsitzende des Umweltausschusses im Bundestag, Sylvia Kotting-Uhl (Grüne).
© Quelle: privat
Die Grünen im Bundestag prangern das deutsche Wegducken nun an und haben dafür das Gutachten in Auftrag gegeben. Atomexpertin Sylvia Kotting-Uhl, Vorsitzende des Umweltausschusses im Bundestag, nennt es „bezeichnend, mit welcher Lethargie die Bundesregierung die Atompläne in unserem Nachbarland verfolgt“.
„Die potenziell gravierenden Auswirkungen auf Metropolen wie Berlin und Hamburg sollten gerade vor dem Hintergrund des deutschen Atomausstiegs Engagement statt Desinteresse wecken“, sagte sie dem RND.
Kotting-Uhl hat einen Protestbrief ans ESPOO-Büro geschrieben und auf das neue Gutachten verwiesen, damit diese die polnische Regierung zur Einbindung Deutschlands zwingt.
„Die Bundesregierung kann die irrsinnigen polnischen Atompläne nicht aufhalten, aber ihre betroffenen Bürger informieren, Mitspracherecht einfordern und mit einem wachsamen Auge auf die bestmögliche Sicherheit der Anlagen pochen“, so die Grünen-Politikerin.