So fallen die neuen Mauern
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Rosen in einem Segment der ehemaligen Berliner Mauer während einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der deutschen Teilung anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls an der Mauergedenkstätte Griebnitzsee in Potsdam.
© Quelle: imago images/Martin Müller
Berlin. Die lange Nacht des Mauerfalls dauerte vom 9. November 1989 bis mindestens zum Neujahrsmorgen 1990 und verschwimmt in der Rückschau zu einer einzigen kollektiven Freiluftparty. „Wahnsinn!“ war das Wort der Saison. Die Party endete, als wieder die Politiker, die Ängste und die Nationalismen übernahmen. Der Kater kam, als der Hass zurückkehrte, als die Mauer in den Köpfen wuchs. Er wurde unerträglich, als die Flüchtlingsheime und die Häuser der Einwandererfamilien brannten. So leicht wie in der Nacht des Mauerfalls wurde es nie mehr, zusammenzukommen in Deutschland.
30 Jahre ist das nun her. Viel ist gewachsen zwischen Ost und West, mühevoll und langwierig. Doch nie mehr haben sich die Menschen so vorbehaltlos in den Armen gelegen, mit Rotkäppchen-Sekt und Schultheiß-Bier im Blut, wie im November 1989. Es sind neue Mauern entstanden, nicht nur entlang der Grenze, sondern zwischen den Generationen, zwischen Lebensstilen, zwischen politischen Ansichten. Statt Mauern sagt man heute lieber Filterblasen oder Echokammern. Aber auch sie haben Wände.
Bei der Gedenkfeier zum Mauerfall trug Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Gedicht des Lyrikers Reiner Kunze über die Mauer vor: „Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, wie hoch sie ist in uns.“ Und Bundespräsident Steinmeier sprach vor dem Brandenburger Tor von den neuen Mauern, die nicht eine Diktatur gegen ihr Volk baut, sondern wir zwischen uns.
Während in Berlin Zehntausende feierten, stellten sich in Bielefeld Tausende gegen Neonazis, die ausgerechnet an diesem Tag für eine Holocaust-Leugnerin demonstrierten. Am 9. November, der auch der Tag der brennenden Synagogen ist. Das darf nie vergessen werden.
Es gibt viele Mauern in Deutschland, Mauern des Hasses und der Sprachlosigkeit. Auch sie können tödlich sein. Sie verschwinden, wenn die Menschen ihnen entgegentreten. Das ist die Botschaft dieses Herbstes.
Erst einen Monat ist es her, da wurde dieser Hass tödlich. In Halle starben zwei Menschen durch Kugeln eines Hassverbrechers. Er wollte nicht nur zwei töten, sondern Dutzende – die gesamte jüdische Gemeinde der Stadt. Noch am selben Abend standen Hunderte Menschen auf dem Marktplatz. Mit Kerzen, wie ihre Vorgänger im Herbst 1989. Sie standen still dort, sichtlich mitgenommen durch den Schrecken dieses Tages. Aber sie zeigten: Der Hass hatte nicht gewonnen. Wieder einmal.