Streit und vage Beschlüsse: Wie konnte es so weit kommen?
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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigt für nächste Woche Rechtsänderungen an.
© Quelle: Odd Andersen/AFP/POOL/dpa
Der Tag, an dem es einmal wieder um Corona-Beschränkungen geht, beginnt mit Ärger – und er endet mit Unzufriedenheit.
Um 8 Uhr morgens schaltet sich das CDU-Präsidium zusammen. Die Stimmung ist angespannt.
Das Kanzleramt hat in der Nacht einen Besschlussvorschlag verschickt für die Bund-Länder-Konferenz, auf der über mögliche weitere Maßnahmen beraten werden soll.
„Die Lage ist nach wie vor sehr ernst“, heißt es darin. „Vor uns liegen vier schwere Wintermonate.“ Vor zwei Wochen haben Bund und Länder beschlossen, Gaststätten, Kinos und Theater zu schließen und Treffen in der Öffentlichkeit auf zehn Personen zu beschränken.
Masken im Unterricht
Das Kanzleramt dreht nun weiter: Maximal zwei Personen soll man noch treffen können, Kinder und Jugendliche einen Freund oder eine Freundin. Sanktionen werden angekündigt. Unter Punkt fünf werden das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes für alle Schüler auch im Unterricht und die Halbierung der Klassen vorgeschlagen.
Mehrere Ministerpräsidenten haben sich in die CDU-Schalte eingewählt. Sie sind nicht zufrieden. Das Papier des Kanzleramts entspreche nicht dem, was in einer Vorkonferenz am Sonntag besprochen worden sei, beschweren sich einige.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer findet, man solle sich mehr Zeit lassen. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) macht es konkret: Es sei unrealistisch, Schulklassen aufzuteilen, um mehr Abstand zu ermöglichen. Dafür brauche man mehr Lehrer.
Ähnlich empört zeigt sich der Koalitionspartner SPD: „Ich bin überrascht, dass wir am Sonntagabend einen Beschlussvorschlag bekommen haben, der in keiner Weise vorbesprochen ist“, sagt Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig dem RND. „Wenn man eine gemeinsame Lösung will, darf man so nicht vorgehen.“ Unverhältnismäßig seien die vorgeschlagenen Belastungen für Kinder und Jugendliche.
Merkels Warnung
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) findet, man solle lieber erst in zehn Tagen beschließen.
Die Lage ist ernst, auf vielen Ebenen. Es gibt Demonstrationen von Corona-Skeptikern, es gibt Proteste von Eltern und Lehrern und Klagen von Gastronomen – und nun auch noch Ärger zwischen Bund und Ländern.
Im CDU-Präsidium signalisiert die Kanzlerin Einlenken. Der Beschlussvorschlag werde aktualisiert, kündigt sie an. Aber sie verbindet das mit einer Warnung: „Die Zahlen stabilisieren sich etwas.“ Die Entwicklung sei aber noch „zu langsam“.
Das Kanzleramt verschickt also ein weiteres Papier an die Länder. Punkt fünf ist zusammengeschrumpft. Die Länder würden „bis zur nächsten Konferenz in einer Woche einen Vorschlag vorlegen“, heißt es nun.
Die Ministerpräsidenten beugen sich über das Papier. „Wir streichen weiter“ dringt es kampfeslustig aus der Runde.
Ärger im Kanzleramt
Und sie streichen einiges. Die Beschränkung der Freundestreffen für Kinder und Jugendliche wird zum Appell, die Quarantäneempfehlung bei Erkältungssymptomen fliegt ganz heraus, genauso wie der Hinweis, wenn möglich aufs Bus- und Bahnfahren zu verzichten.
Im Kanzleramt ist man nicht amüsiert, vor allem über einen weiteren Punkt: Konsequent haben die Länder fast alle Passagen gestrichen, in denen auf die Bedeutung einer möglichst geringen Zahl von Neuinfizierten hingewiesen wird. Wenn das so durchgeht, wäre es ein Signal für eine andere Corona-Politik.
Es ist ein Ringen um Gewichtung und Geschwindigkeit, die Abwägung von Beschränkung und Freiheit. Es gilt, die mögliche Belastung des Gesundheitssystems zu verhindern, Alte und Risikogruppen zu schützen und gleichzeitig nicht einzusperren. Kinder Kinder sein zu lassen und Familien nicht zu überfordern.
Es geht um die Grenzen der Zumutungen, an ganz vielen Enden gleichzeitig. Und es geht auch um Entscheidungsprozesse in einer Demokratie.
CSU-Chef Markus Söder verkündet an diesem Tag auf einer CDU-Wirtschaftstagung, es sei noch nicht der Zeitpunkt, um die Wirtschaft weiter zu beschränken. Aber die Maskenpflicht in Schulen sei eine gute Idee.
Im CDU-Präsidium plädiert Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff dafür, nicht bundeseinheitliche Schritte zu verordnen, sondern regional zu reagieren. Auch Ministerpräsidentin Schwesig verweist auf die niedrigsten Infektionszahlen ihres Bundeslandes. Eine Maskenpflicht für Grundschüler sei daher hier nicht einzusehen.
Auch der Kinderschutzbund erklärt: „Wir können nicht Erstklässlern zumuten, den gesamten Schultag über einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, und gleichzeitig ungeregelten Präsenzbetrieb in den Bürohäusern der Innenstädte zulassen.”
Aus Nordrhein-Westfalen meldet sich der dortige Familienminister Hans-Joachim Stamp (FDP). „Dieser Passus kann nicht beschlossen werden“, sagt er zur vorgeschlagenen Halbierung der Klassengrößen. Damit kann auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet nicht zustimmen, wenn er keinen Koalitionsbruch riskieren will.
Hoffnungsnachricht und Infektionszahlen
Zwei Wochen sind vergangen seit dem letzten Beschluss. Es ist die Zeit, die laut Wissenschaftlern mindestens vergehen muss, damit ein Corona-Infizierter nicht mehr ansteckend ist.
Das Robert-Koch-Institut meldet am Montag 10.824 neue Infektionsfälle. Erstmals seit August sind es weniger als am Montag der Vorwoche.
Aber der Vergleich zweier Zahlen ist noch kein Trend. Im CDU-Präsidium spricht Gesundheitsminister Jens Spahn von einer Seitwärtsbewegung.
Am Montag kommt auch eine weitere Hoffnungsnachricht: Nach Pfizer und Biontech vermeldet auch das US-Unternehmen Moderna Erfolge bei der Impfstoffentwicklung. Die Bundesregierung bereitet die Impfzentren vor. Bis zu 96 Menschen an einem Tag soll ein Arzt impfen können, heißt es in einem Organisationspapier, das dem RND vorliegt. Für jeden Patienten soll die Prozedur von der Ankunft an der Impfstelle bis zum Vollzug möglichst nicht länger als 15 Minuten dauern.
Und ein Großteil der Bevölkerung geht bei den Beschränkungen mit. 54 Prozent der Befragten bewerteten die aktuellen Maßnahmen im jüngsten ARD-Deutschlandtrend als angemessen. Weitere 18 Prozent finden sogar, es müsse mehr geschehen.
Das gilt auch im Bildungsbereich. Die Lehrergewerkschaften plädieren für geteilte Klassen und hybriden Unterricht. „So wie im Moment unterrichtet wird, sind die Gesundheitsrisiken für Schüler und Lehrer zu hoch“, sagte die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marlis Tepe, dem RND.
Stephan Wassmuth vom Bundeselternrat sagt im RND-Podcast „Die Schulstunde“: „Die Vorgaben des Robert-Koch-Instituts, die für alle gelten, die für unsere gesamte Gesellschaft gelten: Warum gelten die nicht auch in der Schule?“
Protest gegen das Pandemiegesetz
Einem Viertel der Bevölkerung gehen die Einschränkungen laut ARD-Umfrage allerdings schon jetzt zu weit. Für den Mittwoch ist eine weitere Demonstration vor dem Reichstag geplant. An diesem Tag soll der Bundestag die Novelle des Infektionsschutzgesetzes beschließen.
Mehr Einflussmöglichkeiten der Parlamente in Pandemiezeiten wird es dadurch allerdings wohl kaum geben. Schutzmaßnahmen wie Abstandsregeln, Kontaktbeschränkungen oder die Schließung von Restaurants müssen nun zwar gegenüber den Landesparlamenten begründet und befristet werden, eine Genehmigung der Maßnahmen durch Bundestag oder Landtage konnte die SPD allerdings nicht durchsetzen. Regierungen müssten in der Pandemie in der Lage sein, schnell zu reagieren, argumentiert die Union.
Was beschlossen wurde
Über fünf Stunden sitzen die Regierungschefs zusammen. Letztlich geht es so aus: Die Entscheidungen zu Schulen und Kitas werden verschoben – Punkt für die Länder. Dafür bleibt die Forderung des Kanzleramts nach Reduzierung privater Feiern und Verzicht auf nicht notwendige Fahrten mit Bus und Bahn im Beschlusstext.
Die Zahl der Kontakte soll beschränkt werden – auf einen weiteren festen Hausstand. „Das schließt auch Kinder und Jugendliche ein“, heißt es. Der Hinweis auf Sanktionen ist weggefallen, genauso wie der Satz „Die Lage ist ernst“.
Dafür bleibt die Orientierungsmarke: Senkung der Neuinfektionen auf maximal täglich 50 pro 100.000 Einwohner. „An dem Ziel haben wir nichts verändert“, betont Merkel. „Das ist genau der Schwellenwert“, unterstreicht Söder. Aber richtig zufrieden wirken sie nicht. Sie hätte gern weitere Kontaktbeschränkungen beschlossen, räumt die Kanzlerin ein.
Söder wird schärfer: „Es war heute kein großer Wurf“, sagt er ernst.
Beim nächsten Treffen am Mittwoch kommender Woche, dem 25. November, müsse man entscheiden. Es sei besser, Einschränkungen zu verlängern, statt vorzeitig abzubrechen.
„Corona hat jeden bestraft, der zu früh geglaubt hat, es sei vorbei“, sagt Söder. „Es gibt keinen Anlass zu glauben, ab Anfang Dezember wäre alles wie früher.“