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„Russland stellt sich auf längeren Krieg ein“

Putin will die russische Armee aufstocken: Warum Experten bezweifeln, dass er das schafft

Russische Truppen marschieren während einer Probe für die Militärparade zum Tag des Sieges in St. Petersburg (Archivbild).

Russische Truppen marschieren während einer Probe für die Militärparade zum Tag des Sieges in St. Petersburg (Archivbild).

Ein halbes Jahr nach dem Einmarsch in die Ukraine hat Kremlchef Wladimir Putin die Vergrößerung der russischen Armee angeordnet. Ab 2023 soll die Armeestärke insgesamt mehr als zwei Millionen Menschen umfassen, wie aus einem am Donnerstag veröffentlichten Dekret hervorgeht. Konkret erhöht werden soll die Zahl der bewaffneten Kräfte – dazu zählen sowohl Vertragssoldatinnen und -soldaten als auch Wehrdienstleistende – um 137.000 auf rund 1,15 Millionen. Doch kann das funktionieren – und bringt das Russland dann überhaupt noch etwas für den Krieg?

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„Es ist ein Indiz dafür, dass Russland sich auf einen längeren Kriegsverlauf einstellt“, ordnet Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) ein. Denn die neue „Sollstärke“ der Armee solle erst 2023 erreicht werden. „Zudem müssen die zusätzlich eingezogenen Wehrdienstleistenden noch mindestens sechs Monate Grundausbildung durchlaufen“, sagt er. Erst in geschätzt einem Jahr würde sich das seiner Meinung nach auswirken.

Gerhard Mangott ist Politikwissenschaftler und Professor für internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck mit den Schwerpunkten Internationale Beziehungen und Sicherheit im postsowjetischen Raum.

Gerhard Mangott ist Politikwissenschaftler und Professor für internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck mit den Schwerpunkten Internationale Beziehungen und Sicherheit im postsowjetischen Raum.

Die neue Sollstärke der russischen Armee liegt etwa 12 Prozent höher als die aktuelle Sollstärke.

Gerhard Mangott,

Russland-Experte

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Doch kann Putin überhaupt so viele zusätzliche Wehrdienstleistende und Berufssoldaten rekrutieren? „Die neue Sollstärke der russischen Armee liegt etwa 12 Prozent höher als die aktuelle Sollstärke“, gibt Mangott eine Einschätzung der Dimension. „Wenn man zudem bedenkt – auch wenn wir keine verlässlichen Zahlen haben –, dass in diesem Krieg sicherlich an die 20.000 bis 30.000 russische Soldaten schon gefallen sind und mindestens die doppelte Anzahl verwundet wurde, dann liegt die angestrebte Sollstärke sicherlich um 17 bis 18 Prozent über der Stärke, die die russischen Streitkräfte jetzt haben.“

„Auf einen Toten kommen zwei, drei Verwundete“

Auch der Ex-Nato-General Hans-Lothar Domröse erklärt zum Ausfall von russischen Soldaten gegenüber dem RND: „Da gibt es einen militärischen Schlüssel: Auf einen Toten kommen zwei bis drei Verwundete. Putin hat einen erheblichen Aderlass und das zwingt ihn zu überlegen, wie er die Armee auf Dauer anfüttert, wenn wir davon ausgehen, dass der Krieg morgen nicht zu Ende ist.“

Hans-Lothar Domröse (hier im Jahr 2015) ist ein ehemaliger General des Heeres der Bundeswehr. Zuletzt war er als Nato-General von Dezember 2012 bis März 2016 Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command Brunssum mit Stützpunkt in den Niederlanden.

Hans-Lothar Domröse (hier im Jahr 2015) ist ein ehemaliger General des Heeres der Bundeswehr. Zuletzt war er als Nato-General von Dezember 2012 bis März 2016 Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command Brunssum mit Stützpunkt in den Niederlanden.

Einfach wird die Aufstockung Russland aber nicht fallen, glaubt Mangott: „Es wird für die russische Seite schwer, diese neue Sollstärke zu erreichen.“ Dafür müssten zunächst auch all jene jungen Männer für den Wehrdienst eingezogen werden, für die bisher Ausnahmen gelten würden oder die dank Bestechung bislang nicht eingezogen wurden. Und auch das werde nicht reichen, so die Prognose des Experten: „Russland wird in den nächsten Jahren sehr geburtenschwache Jahrgänge haben, weil die Geburtenrate spätestens seit 1987 deutlich zurückgegangen ist.“ Nur mit einer verschärften Rekrutierung Wehrpflichtiger die angestrebte Stärke zu erreichen hält der Experte für unrealistisch.

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Er sei zudem verwundert darüber, dass Putin nicht die Wehrdienstverlängerung angeordnet habe. „Es würde Sinn machen, dass man den Wehrdienst wieder auf die Dauer verlängert, die er bis 2006 hatte – nämlich zwei Jahre“, sagt Mangott. Aktuell liege der Zeitraum bei einem Jahr. „Das wäre sicherlich politisch sehr unpopulär, gerade wenn sich das Land im Kriegszustand befindet, aber leichter zu erreichen wäre das Ziel dadurch.“ Welche Alternativen bleiben also?

Mehr Sold könnte mehr Berufssoldaten überzeugen

„Dann geht es nur über Berufssoldaten. Die werden in größerer Zahl im Kriegszustand nur eintreten, wenn dafür ein höherer Sold bezahlt wird“, sagt Mangott. „Offensichtlich ist man von staatlicher Seite aus dazu bereit.“ Auch Militärexperte Domröse geht von diesem Schritt aus: „Putin kann mit mehr Budget noch mehr Zeit- und Berufssoldaten generieren“, so seine Einschätzung. Es brauche aber auch Strukturen für dazu gewonnene Soldaten: „Diese lassen sich nicht über Nacht aufbauen“, sagt Domröse und nennt etwa Kasernen, Wohnraum, Ausbildungsplätze und Waffen. „Das ist ein Prozess, der dauert.“

Das verstärke den Eindruck, dass Russland sich auf einen längeren Krieg einstelle, meint auch Mangott – sonst würde sich die Investition nicht lohnen. „Man geht in Russland mindestens noch von einer Kriegsdauer von einem Jahr aus“, so seine Einschätzung.

Krieg gegen die Ukraine schadet Russland massiv
24.08.2022, Großbritannien, London: Eine Union-Jack-Flagge und eine ukrainische Flagge wehen vor den Houses of Parliament am Unabhängigkeitstag der Ukraine. Im Schatten des seit einem halben Jahr andauernden russischen Angriffskriegs begeht die Ukraine am Mittwoch (24.08.2022) ihren Nationalfeiertag. Foto: Frank Augstein/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die russischen Truppen kämen kaum voran, sagte Verteidigungsminister Ben Wallace am Mittwoch der BBC.

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Es bleibt bei der „Spezialoperation“

Dabei wird der Krieg in Russland noch immer nicht als solcher bezeichnet, sondern weiterhin als „militärische Spezialoperation“. Macht die Armeeaufstockung das nicht hinfällig? „Indirekt schon“, meint Mangott. Doch große Bedeutung habe das nicht mehr. Denn: „In Russland weiß nahezu die gesamte Bevölkerung, dass das ein Krieg ist und dass diese Formulierung der Ideologiesprech der politischen Führung ist“, sagt der Experte.

Einen Grund dafür, dass Putin den Krieg immer noch nicht als Krieg bezeichnet, nennt Domröse: „Nach der Rhetorik läuft die ‚Spezialoperation‘ nach Plan“, sagt er. „Das will er verbreiten, die Leute sollen sich keine Sorgen machen.“ Er erhöhe also einfach die Zahl der Truppen, ohne das näher zu begründen. Domröse nennt das einen „geschickten Schachzug“: „Er ruft keinen Krieg aus, sagt es läuft alles okay, und es sollen einfach mehr junge Männer zur Armee.“ Während laut Kremldarstellung alles „nach Plan“ läuft, bescheinigen jedoch internationale Militärexpertinnen und -experten Russland ein nur schleppendes Vorankommen und gehen von hohen Verlusten der russischen Truppen aus. Moskau selbst hat schon lange keine Angaben mehr zu Toten und Verletzten in den eigenen Reihen gemacht.

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Experten erwarten keine russischen Proteste

Sowohl Mangott als auch Domröse erwarten nach der Ankündigung der Armeeaufstockung aber keine Proteste. „Da wird in Russland keiner gegen aufstehen“, meint der Ex-Nato-General – und geht noch weiter: „Da würde in Deutschland auch nichts passieren. Hätte Scholz bei seiner Ankündigung der 100 Milliarden gesagt, dass die Armee zudem von 200.000 auf 220.000 erhöht wird – da würde in Deutschland auch keiner auf die Straße gehen.“ Der Unterschied dabei: Im Gegensatz zu Deutschland führt Russland gerade einen Krieg. Domröse nennt das Vorgehen des Kremlchefs dabei „geschickt“ und erklärt: „Er hält seine Hochburgen Sankt Petersburg und Moskau völlig raus, die gehen nicht in den Krieg. Deswegen gibt es da auch gute Stimmung.“ Stattdessen ziehe er etwa die Leute aus Kasachstan, Dagestan, „hinten aus der Republik“ ein. „Da gibt es keinen Protest. Das ist perfide.“

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Auch Mangott erwartet keine Proteste. „Anders wäre es, wenn man jetzt eine Generalmobilmachung ankündigen würde“, meint er. Dazu müsse vorher der Kriegszustand verhängt werden. „Das könnte zu größerer Unruhe führen. Das wäre dann die Rekrutierung von mehr als einer Million Männer für den Krieg und ist politisch nicht mehr so leicht handzuhaben“, so seine Einschätzung. Die aktuelle „Passivität, die die meisten Russen angesichts dieses Krieges haben“, hänge auch damit zusammen, dass vor allem Berufssoldatinnen und -soldaten und einige Wehrpflichtige im Krieg seien – „aber nicht ein großer Teil der Bevölkerung“.

Kommt dennoch die Generalmobilmachung?

Ob die jetzt angekündigte Armeeaufstockung die Generalmobilmachung verhindert, da ist sich Mangott nicht sicher. „Es gibt bisher keine Indizien für eine Generalmobilmachung“, meint der Russland-Experte. Er schließe aber nicht aus, dass es bei einem unglücklichen Kriegsverlauf in zwei, drei oder auch vier Monaten doch zu einer Generalmobilmachung kommen könne. Die jetzt geplante Aufstockung nennt er „eine Art Zwischenlösung“. „Ich kann mir vorstellen, dass, wenn die nicht so reibungslos funktioniert, wie man sich das erhofft, die Generalmobilmachung der letzte Ausweg ist.“

Mit seiner Einschätzung, dass durch die Armeevergrößerung erst mal eine Generalmobilmachung verhindert werden soll, steht Mangott nicht allein da: Auch das Institute for the Study of War (ISW) teilt diese Ansicht und sieht es wie der Russland-Experte als schwierig für Russland an, die angegebene Verstärkung der Armee zu erreichen.

Mit Material der dpa

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