Ukrainischer Menschenrechtler über die Krim

„Die Krim wird durch Russland kolonisiert“

Der Buchstabe «Z» ist auf einem Gebäude in Sewastopol zu sehen, unter dem Soldaten der russischen Nationalgarde (Rosguardia) in der von Russland 2014 annektierten Stadt entlang marschieren.

Der Buchstabe «Z» ist auf einem Gebäude in Sewastopol zu sehen, unter dem Soldaten der russischen Nationalgarde (Rosguardia) in der von Russland 2014 annektierten Stadt entlang marschieren.

Die Krim ist seit 2014 durch Russland besetzt. Wie würden Sie die Menschenrechtslage auf der Halbinsel beschreiben?

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In den vergangenen fast neun Jahren haben wir mehr als 4000 Fälle von Menschenrechtsverletzungen auf der Krim dokumentiert. Dabei geht es um Verfolgung aus religiösen und ethnischen Gründen, aber auch um die grundsätzliche Einschränkung der Redefreiheit. Demokratische Institutionen und demokratische Medien wurden zerschlagen und verboten. Was wir dokumentieren können, ist aber nur die Spitze des Eisbergs.

Die Krim war einst vor allem ein Ort des Tourismus und der Erholung. Heute ist sie in erster Linie ein Militär­gebiet. Unmengen an militärischem Gerät und Personal wurden von Russland auf die Krim verlegt. Sie wurde dadurch zu einem der wichtigsten Militärstützpunkte Russlands für den Krieg gegen die Ukraine.

Alim Aliev, stellvertretender Leiter des Ukrainian Institute in Kiew.

Alim Aliev, stellvertretender Leiter des Ukrainian Institute in Kiew.

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Die Militarisierung geht aber noch viel weiter und setzt sich im Bewusstsein der Menschen fort. Es wurden paramilitärische Organisationen in den Schulen auf der Krim etabliert, in denen die russische Kriegs­propa­ganda direkt in die Köpfe der Schüler gepflanzt werden soll.

Zur Person
 
Alim Aliev

Alim Aliev ist auf der Krim aufgewachsen – vor der Annexion durch Russland. Er hat als Journalist, Menschenrechtsaktivist und Leiter von Bildungs- und Kulturprojekten gearbeitet. Heute beobachtet der Krimtatare die Menschenrechtslage auf der Halbinsel aus Kiew. Dort arbeitet er als stellvertretender Leiter des Ukrainian Institute, einem ukrainischen Pendant zum deutschen Goethe-Institut.

Was bedeutet die russische Besetzung für die Krimtataren?

Die Krim wird durch Russland kolonisiert. Die Geschichte und Kultur der Krimtataren wird entweder von Russland angeeignet und zur russischen Kultur erklärt, oder sie wird zerstört. Die starke nationale Identität der Ukrainer und der Tataren auf der Krim wird von Moskau als Bedrohung für die nationale Sicherheit Russlands gesehen. Russland zerstört seit 2014 materielle und immaterielle Kulturgüter der Krimtataren, die nicht zur Ideologie des Kreml passen. Ein Beispiel ist der Khanpalast von Bachtschissaraj. Er ist für die Krim­tataren ein wichtiges Kulturerbe, wird jetzt aber unter dem Vorwand einer Restauration und Rekonstruktion zerstört.

Bei der Kolonisierung der Krim geht es auch um einen Austausch der Bevölkerung. Seit Beginn der russischen Besetzung 2014 haben 60.000 bis 70.000 Einwohner die Krim verlassen. Dadurch gab es einen Braindrain, weil es vor allem gut ausgebildete junge Leute, Studierende, Geschäftsleute, Aktivisten, Politiker und Journalisten waren, die geflohen sind. An deren Stelle siedelte Russland zahlreiche Beamte, Sicherheitskräfte, aber auch Geschäftsleute und Rentner aus verschiedenen Teilen des Landes auf der Krim an. Nach unseren Erkennt­nissen sind seit 2014 etwa 700.000 Menschen aus Russland auf die Krim gezogen.

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Die Krimtataren stellten schon vor der Annexion 2014 nur noch eine Minderheit auf der Krim dar.

Ja, denn es war nicht der erste Versuch, die ethnische und religiöse Zusammensetzung der Krim durch eine Verdrängung der indigenen Krimtataren zu verändern. Vor der ersten Annexion der Krim durch Katharina die Große im Jahr 1783 bestand die Bevölkerung der Krim zu 95 Prozent aus Tataren. Heute sind es nur noch 12 bis 13 Prozent. Das ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Siedlerkolonialismus.

Wo stehen die auf der Krim lebenden Tataren heute im Krieg zwischen Russland und der Ukraine?

Die Mehrheit ist proukrainisch eingestellt. Die Krimtataren haben lange und leidige Erfahrung damit, was es heißt, von Russland regiert zu werden. Von der Annexion durch das Kaiserreich im 18. Jahrhundert über Deportationen durch das Stalin-Regime 1944 bis hin zur Besetzung 2014, die eine weitere tragische Seite zu unserem Geschichtsbuch hinzufügt. Viele der von der Krim geflohenen Tataren haben sich – so wie ich – als Freiwillige für die ukrainische Armee gemeldet.

Der Kreml sieht die Krim als elementaren Teil der „Russischen Welt“. Was verbirgt sich hinter diesem Konzept?

Hinter dem Konzept der „Russkiy Mir“, der „Russischen Welt“, steckt die Idee, dass es eine große überge­ordnete „Russische Kultur“ gibt, die anderen Kulturen überlegen ist. Die ukrainische oder die tatarische Kultur werden nicht als eigenständige und wertvolle Kulturen angesehen, sondern höchstens als Teil der russischen Kultur. Das ist der imperialistische Versuch, das Beste aus anderen Kulturen zu übernehmen und zur eigenen russischen Kultur zu erklären.

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Russkiy Mir

„Russkiy Mir“ bedeutet auf Deutsch „Russische Welt“, lässt sich aber ebenso als „Russischer Frieden“ übersetzen. Das bedeutungsschwangere Konzept entstand in Russland seit den 1990er-Jahren in kremlnahen Kreisen Russlands. Auch die russisch-orthodoxe Kirche hat sich das Konzept zu eigen gemacht. Die Erzählung einer russischen Welt, die weit über die Grenzen Russlands hinaus reicht, dient Wladimir Putin etwa zur Rechtfertigung des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Mehr als 1600 orthodoxe Theologen und Geistliche aus mehreren Ländern haben das Konzept der „Russischen Welt“ im vergangenen Jahr in einer gemeinsamen Erklärung als Häresie verurteilt und sich damit gegen die kremltreue Führung der russisch-orthodoxen Kirche gestellt.

Welche Rolle spielt die Erzählung von der „Russischen Welt“ für Putins Politik und Putins Macht?

Das Konzept der „Russischen Welt“ ist die Grundlage für die Aktivitäten des Kremls innerhalb wie außerhalb Russlands. Innerhalb des Landes dient diese Erzählung von der „Russischen Welt“ zur Ablenkung von Missständen wie Korruption. Und sie dient auch zur Legitimation des Angriffs auf die Ukraine bei der eigenen Bevölkerung. Viele Soldaten, die Putin in die Ukraine schickt, um Menschen zu töten, kommen nicht aus den Metropolen wie Moskau oder Sankt Petersburg. Sie kommen vom Land aus kleinen Republiken wie Burjatien. Das sind keine ethnischen Russen, sondern Angehörige kolonisierter Regionen, die jetzt im Namen des russischen Kolonialismus gegen die Ukraine kämpfen. Das ist eine tragische Geschichte.

Richtet sich die Erzählung von der „Russischen Welt“ vor allem an die russische Bevölkerung, oder auch an die internationale Gemeinschaft?

In erster Linie dient das Konzept der „Russischen Welt“ der Beeinflussung der postsowjetischen Staaten. Russland betrachtet das gesamte Gebiet der ehemaligen Sowjetunion als „seins“. Russland hat auf enge Zusammenarbeit mit Ländern wie Kasachstan, Kirgistan, Belarus, der Ukraine oder Georgien gesetzt. Doch sobald sich ein Land dagegen sträubt, Teil der „Russischen Welt“ zu sein, und sich für einen anderen, demokratischen Weg entscheidet, ist es russischer Aggression ausgesetzt. Das konnte man 2008 in Georgien und seit 2014 in der Ukraine beobachten.

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Die Erzählung von der „Russischen Welt“ dient dem Kreml als Rechtfertigung, alle Länder anzugreifen, über die Russland einst geherrscht hat. Der Krieg in der Ukraine ist deshalb nicht in erster Linie ein Krieg um Gebiete. Es ist viel mehr ein Krieg um Werte, ein Krieg Europas gegen „Anti-Europa“. Es ist ein Krieg um unsere Zukunft. Die Werte und Ideen der „Russischen Welt“, sind dagegen Werte und Ideen aus dem vergangenen Jahrhundert.

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