Kommentar

Wahlrechtsreform: die ganz große Koalition der Egoisten und Heuchler

Ein neues Wahlrecht soll die Zahl der Bundestagsabgeordneten verringern – über die genaue Ausgestaltung gibt es viel Streit.

Ein neues Wahlrecht soll die Zahl der Bundestagsabgeordneten verringern – über die genaue Ausgestaltung gibt es viel Streit.

Berlin. Dieser Beschluss ist ein Scheitern. Bis zuletzt hatten viele gedacht, dass die Ampel das so nicht durchzieht. Es wäre ja ein Unding: Nach jahrzehntelangem Tauziehen über eine grundlegende Reform des Wahlrechts und nach wochenlangen Verhandlungen mit der Union über den neuen Ampelvorschlag, die Aufblähung des Bundestages zu beenden, würde die Koalition einfach aus Trotz die Kompromisssuche aufgeben und über Nacht ihre bislang fairen Vorschläge so verbiegen, dass nur sie selbst profitiert?

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Sollte das ein Bluff sein, um die Union doch noch zum Einlenken zu bewegen? Die Antwort ist Nein. An diesem Freitag drückte die Ampel holterdipolter völlig neue Regeln zur nächsten Bundestagswahl durch.

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Die Opposition ist entrüstet – zu Recht. Denn mit diesem Beschluss hat nun auch die Ampel den Anspruch aufgegeben, die Spielregeln der Demokratie nicht im Alleingang und nicht zum Eigennutz zu verbiegen.

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Denn ob man das mag oder nicht: Es gibt in Deutschland nun einmal beide Traditionen. Die Anhänger des Mehrheitswahlrechts finden, wer die meisten Stimmen erhält, soll das Sagen haben und alle anderen sollen sich unterordnen. Wie in Großbritannien: The winner takes it all. Und es gibt die Anhänger des Verhältniswahlrechts, die die Verteilung aller Wählerstimmen möglichst genau im Parlament abbilden und Minderheiten nicht unter den Tisch fallen lassen wollen. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach geurteilt, wie wichtig ihm dieser Aspekt ist.

Weil sich aber diese konkurrierenden Denkrichtungen nie völlig vereinbaren lassen werden, war das bundesdeutsche Wahlrecht bislang eine Mischung daraus, die ihre Macken hatte: innere Widersprüche, Kompromisse und die Nebenwirkung, dass durch die Vergrößerung des Parteienspektrums der Bundestag zum zweitgrößten Parlament nach Chinas Volkskongress anschwoll.

Es ist gut und richtig, dass damit alle Schluss machen wollten: die Wählerinnen und Wähler, die Parteien und sogar die Abgeordneten selbst. Nur kam so neben Verhältnis- und Personenwahl ein dritter Faktor hinzu – wodurch weitere Widersprüche und Zugeständnisse nötig wurden.

Bundestag zu groß: Umstrittene Wahlrechtsreform beschlossen
ARCHIV - 17.10.2017, Berlin: Der Plenarsaal des Bundestages wird für die konstituierende Sitzung umgebaut. Das Bundesverfassungsgericht verhandelt am 18. April über die umstrittene Wahlrechtsreform der Großen Koalition im Jahr 2020. Hintergrund ist der lange Streit um die Frage, wie der zu groß gewordene Bundestag gesundgeschrumpft werden kann. Keine Partei will dabei politisch an Einfluss verlieren. Ein Kompromiss, den alle mittragen wollten, war daher trotz mehrerer Anläufe nicht zustande gekommen. Schließlich hatten CDU/CSU und SPD im Alleingang eine Änderung beschlossen, die auch Experten für unzureichend halten. Foto: picture alliance / Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

In letzter Minute bittet Unionsfraktionschef Merz um eine zweiwöchige Verschiebung.

Die Ampel hatte Anfang des Jahres einen stimmigen Kompromiss aus allen drei Anliegen vorgelegt: Eine strenge Begrenzung der Sitze, deren Aufteilung an die Parteien nach Zweitstimmenergebnis und deren Belegung zuerst an die Wahlkreisgewinnerinnen und -gewinner. Der Preis für diese Quadratur des Kreises wäre gewesen, dass Parteien ihre am wenigsten erfolgreichen Direktkandidatinnen und -kandidaten nicht mehr hätten schicken können, wenn ihr keine Sitze mehr zustünden.

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Es ist unbestritten die CSU, die auf den fairen Vorschlag wieder mit Polemik und Blockade reagierte – und mit dem Gegenvorschlag, man solle doch einfach 15 ihrer Kandidatinnen und Kandidaten auch dann einziehen lassen, wenn dadurch im Extremfall der Wahlsieger die kleinere Fraktion hätte und die Union selbst bei einem knappen zweiten Platz doch die größte Fraktion stellen könnte.

Die Union war es auch, die die sogenannte Grundmandatsklausel anprangerte: Wenn doch Direktmandate unwichtiger würden, wieso konnte die Linke dann 2021 dank dreien davon in den Bundestag einziehen, ohne die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen zu haben? Nötig wären da, fand die Union, schon fünf Wahlkreissiege – wie sie die Linke nicht, die CSU aber locker liefert. Effekt: Die Linke flöge raus, die Christsozialen wären gestärkt.

Keine Frage: Das war die gewohnte Verhöhnung aller Reformversuche am Wahlrecht, mit der die CSU bereits die Anläufe der CDU-Bundestagspräsidenten Lammert und Schäuble versaut hatte.

Paukenschlag der großen Koalition

Dennoch ist es falsch von SPD, Grünen und FDP, dass sie auf diesen Stinkefinger mit einer Eskalation reagierten und ihren Gesetzentwurf in den letzten Tagen vor der Verabschiedung überhastet, brutal und intransparent zuspitzten – vor allem durch die völlige Streichung der Grundmandatsklausel. Der Effekt: Rutscht die CSU im Vergleich zu 2021 um 0,3 Prozentpunkte ab, fliegt sie aus dem Bundestag – auch bei 46 Wahlkreissiegen. Ähnliches droht der Linken.

Wahlrechtsreform: Söder sieht CSU-Existenz bedroht
13.03.2023, Bayern, München: Markus Söder, CSU-Vorsitzender und Ministerpräsident von Bayern, nimmt nach einer virtuellen Videokonferenz des CSU-Vorstands, an einer Pressekonferenz in der CSU-Parteizentrale teil. Foto: Peter Kneffel/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Markus Söder sieht mit dem Entwurf der Ampelkoalition zu einem neuen Bundeswahlrecht die Existenz seiner Partei infrage gestellt.

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Es mag ja sein, dass die Reform nun weniger innere Widersprüche enthält. Zugleich aber wirft sie jahrzehntelange Traditionen über den Haufen, ohne dass darüber öffentlich debattiert und im Ausschuss ausreichend darüber beraten wurde.

Ja, es nervt, dass die CSU eine Extrawurst gebraten bekommt, indem sie bei einer bundesweiten Wahl nur in einem Land antritt. Es stimmt auch, dass sie ihren Sonderstatus fast ausschließlich für bayerische Interessen ausnutzt. Und vielleicht kann man sogar diskutieren, dass CDU und CSU bitte schön gemeinsam antreten sollen, wenn sie danach doch sowieso gemeinsame Sache machen.

Nur sind das politische Fragen, die man nicht handstreichartig mit einfacher Mehrheit klären kann. Denn die Regelung hat auch Vorteile, etwa den Einzug von Parteien, die starke Regionalinteressen vertreten, wie die Linke im Osten und die CSU in Bayern.

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Zwar weiß niemand, ob am Ende nicht doch die CSU profitiert, weil sie an Zulauf gewinnt oder ob die FDP verliert, weil Wählerinnen und Wähler ihre Unions- oder SPD-Direktkandidatinnen und -kandidaten absichern und den Liberalen deshalb nicht mehr die Zweitstimme geben. Fakt bleibt: Einen solchen Einschnitt darf man nicht im Handstreich beschließen.

Hätte die Ampel ihren ersten Vorschlag verabschiedet, hätte die Union nicht zugestimmt und weiter gepoltert – aber die Regelung hätte dennoch den Geist eines Kompromisses geatmet. Stattdessen hat die Ampel sich selbst auf das Niveau der CSU herabbegeben – mit dem großen Unterschied, dass sie damit Fakten geschaffen hat.

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Gut: Wahrscheinlich wird das Bundesverfassungsgericht ohnehin nachbessern. Was aber bleibt, ist die Demonstration der ganz großen Koalition aus SPD, Grünen, FDP, CDU und CSU, dass man nicht gewillt ist, eigene Interessen und Überzeugungen für das große Ganze zurückzustellen.

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