„Putins Kriegsmaschinerie schwächen“: Willkommenskultur für russische Deserteure gefordert
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Aktivisten halten ein Protestbanner während einer Demonstration gegen die Aufnahme russischer Deserteure in der Nähe eines Grenzübergangs zwischen Georgien und Russland in der Hand.
© Quelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Fahnenflucht, etwas moderner ausgedrückt Desertation – für die einen ist und war es Verrat am Vaterland. Für die anderen ist es der größte Dienst am Frieden.
Wie das britische Verteidigungsministerium berichtet, hat die Zahl russischer Deserteure zuletzt deutlich zugenommen: Zwischen Januar und Mai hätten russische Militärgerichte insgesamt 1053 Fälle von Fahnenflucht behandelt, hieß es unter Berufung auf Recherchen unabhängiger russischer Journalisten.
Diese hatten im unabhängigen russischen Nachrichtenportal Meduza bereits am 12. Mai darüber berichtet. „Unerlaubtes Verlassen einer Militäreinheit“ lautet das Vergehen, Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren drohen den Betroffenen.
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Damit verzeichnete Russlands Armee bereits in den ersten vier Monaten des Jahres mehr Fälle von „Fahnenflucht“ als im gesamten Jahr 2022, als die Gerichte 1001 solcher Fälle verhandelten, so Meduza. Bis Mitte 2022 wurden monatlich etwa 100 Fälle von „Militärdienst“-Verbrechen vor russischen Gerichten verhandelt. Seitdem hat sich diese Zahl sogar vervierfacht. Im März 2023 wurden vor Gericht 441 solcher Fälle und im April 435 Fälle verhandelt.
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Das Krisen-Radar
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Anders als bei Kritik am Krieg oder öffentlichen Protesten, wo drastische Strafen verhängt werden, wurde auf einen Großteil der Fälle „unerlaubten Fernbleibens“ (so der offizielle Strafbescheid) mit scheinbar milden Bewährungsstrafen reagiert.
Was nur damit zu erklären ist, dass der Bedarf an Rekruten außerordentlich hoch ist. Denn „Bewährung“ bedeutet im Fall des „unerlaubten Fernbleibens“ stets, dass es umgehend an die Front geht.
Plädoyer für eine „strategische Russlandpolitik“
Ralf Fücks, Geschäftsführer der Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne, plädiert ganz grundsätzlich für eine „strategische Russlandpolitik“, die russischen Armeeangehörigen die Entscheidung erleichtert zu desertieren. Deutschland sollte die Hürden abbauen, die es Deserteuren und russischen Oppositionellen noch immer schwer machen, hier Schutz zu finden.
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Ralf Fücks, Geschäftsführer der Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne, hier in der ARD-Talkshow „Hart aber fair“ im WDR Fernsehstudio.
© Quelle: IMAGO/Future Image
Hintergrund: Bisher haben in Deutschland nur wenige russische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer Asyl gefunden. Von knapp 2500 Anträgen seien bislang nur 55 positiv entschieden worden, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) unter Berufung auf eine Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linken erfahren hat.
Wir sollten diesen Menschen für eine Übergangszeit das Angebot eines sicheren Aufenthaltes in Deutschland machen. Das wäre ein wirksames Instrument, die Kampfmoral der russischen Armee weiter zu schwächen.
Ralf Fücks,
Geschäftsführer der Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne
„Wir sollten diesen Menschen für eine Übergangszeit das Angebot eines sicheren Aufenthaltes in Deutschland machen“, fordert Fücks gegenüber dem RND. „Das wäre ein wirksames Instrument, die Kampfmoral der russischen Armee weiter zu schwächen“, so Fücks.
Darüber hinaus plädiert der ehemalige Grünen-Politiker dafür, mehr Anreize für russische Soldaten zu schaffen, ihre Waffen niederzulegen und überzulaufen. „Natürlich darf so etwas nicht über die Köpfe der Ukraine hinweg geschehen. Aber es sollte gesichert sein, dass desertierwillige russische Soldaten Schutz finden und wirtschaftlich abgesichert sind. Und nicht alle, die desertieren wollen, sind ausgewiesene Putin-Kritiker. Trotzdem bin ich dafür, hier die hohen Hürden einer Gesinnungsprüfung abzusenken, weil es ja vor allem darum geht, Putins Kriegsmaschinerie zu schwächen“, so Fücks. Gleichzeitig plädiert er für eine „kollektive Regelung, eine übergreifende Gesamtlösung“ für Überläufer aus dem Putin-Staat, statt der gegenwärtigen Einzelentscheidungen.
Berlin könnte zu einem Hub für die russische Opposition werden. Denn wir müssen an das Russland nach Putin denken.
Ralf Fücks,
Ex-Grünen-Politiker
Fücks: „Frankreich hat bereits großzügige Regelungen für Angehörige der russischen Intelligenzia, Berlin könnte zu einem Hub für die russische Opposition werden. Denn wir müssen an das Russland nach Putin denken.“
Bis zu 5000 Dollar verdienen Wagner-Söldner
Die russische Armee und stärker noch paramilitärische Organisationen wie die Gruppe Wagner ködern Freiwillige mit viel Geld, Wagner-Söldner können bis 5000 Dollar monatlich plus Zulagen verdienen. Andererseits gibt es viele Berichte über nicht erfüllte finanzielle Versprechen. Das stärkste Argument gegen den Militärdienst sind aber die brutal hohen Verlustzahlen der Russen. Das ukrainische Newsportal Kyiv Post geht von 204.760 getöteten russischen Soldaten bis heute aus.
Kampagne „Ich will leben“
Mit dem Titel „Ich will leben“ hat die Ukraine in den vergangenen Monaten eine Kampagne für russische Deserteure aufgesetzt. Die umfasst eine Telefonhotline, eine Website und eine Social-Media-Kontakte für russische Soldaten, Rekruten und ihren Familien. Auf der Internetseite der Kampagne wird etwa erklärt, wie potenzielle Rekruten am besten der Mobilmachung entgehen können. Die Seite wirbt für ein Niederlegen der Waffen.
Merkst du, dass du nicht mit Blumen, sondern mit Feuer und Flüchen begrüßt wirst? Merkst du, dass die Kommandanten zuerst weglaufen? Retten Sie Ihr Leben für sich und Ihre Familie.
Kampagnenseite der ukrainischen Armee für russische Deserteure
Es gibt auch Aufnahmen, die zeigen, wie russische Soldaten den Anweisungen einer Drohne folgen, die ihnen den sicheren Weg in die Gefangenschaft zeigt.
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Russischen Deserteuren bieten die ukrainischen Streitkräfte nach eigenen Aussagen die Einhaltung der Genfer Konventionen zur Behandlung von Kriegsgefangenen, drei Mahlzeiten am Tag, sowie ärztliche Versorgung. Darüber hinaus sollen Deserteure bei rechtlichen Fragen von internationalen Organisationen unterstützt werden und regelmäßige Kommunikation mit Verwandten zugesichert bekommen.