Sicherheit bei Olympia

Olympia-Attentat 1972: Wer schützt heute Olympische Spiele?

Nach dem Attentat 1972 wurden die Sicherheitsvorkehrungen bei Olympischen Spielen deutlich erhöht.

Nach dem Attentat 1972 wurden die Sicherheitsvorkehrungen bei Olympischen Spielen deutlich erhöht.

In der Tasche seines Anzugs hatte David Desmarcheliers Chef während der Olympischen Spiele 2000 in Sydney immer einen Zettel stecken. Auf dem standen elf Namen. Die Namen der elf beim Münchner Attentat von 1972 getöteten Mitglieder der israelischen Olympiamannschaft. Manchmal lugte der Zettel aus der Tasche des damaligen Sicherheitschefs der Olympischen Spiele in Australien heraus, erinnert sich Desmarchelier im Gespräch. Die Botschaft des Sicherheitsexperten an sich selbst und seine Mitarbeiter: Uns passiert so etwas nicht! „Das hat ihn und sein Team motiviert“, sagt Desmarchelier 22 Jahre später.

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Desmarchelier, Australier aus Brisbane, früherer Kampfpilot, berät bis heute das Internationale Olympische Komitee (IOC) sowie die Gastgeberländer und -städte in Fragen der Sicherheit. Auf Sydney folgten Athen, Peking, London, Rio de Janeiro sowie pandemiebedingt um ein Jahr auf 2021 verschoben Tokio – um nur die Sommerspiele zu nennen. Und über allen Spielen schwebte für Desmarchelier das Vermächtnis von München. Denn: „München hat die Welt verändert.“ Die friedliche, völkerverbindende Sportveranstaltung war angegriffen worden, die Terroristen auf zynische Art zu Vorbildern für andere geworden. Gerechnet hatte niemand damit, entsprechend waren die Sicherheitsvorkehrungen. Und dann die Fragen für das weitere Vorgehen: Was würde folgen? Wie sollte man zukünftig auf entsprechende Bedrohungen reagieren?

Präsident Avery Brundage rief vor 50 Jahren einen „Tag der Trauer“

Der wegen seiner zwielichtigen Rolle bei den Nazi-Spielen 1936 in Berlin immer wieder mit Antisemitismusvorwürfen konfrontierte IOC-Präsident Avery Brundage rief vor 50 Jahren einen „Tag der Trauer“ aus. Danach wurden die zuvor als „heitere Spiele“ postulierten Wettkämpfe trotz insgesamt 17 Leichen in gedämpfter Stimmung fortgesetzt. „The games must go on“, „Die Spiele müssen weitergehen“, rief der greise IOC-Boss bei der Trauerfeier ins Olympiastadion. Unmittelbar davor hatte der US-Amerikaner erklärt, warum er so dachte: „Ich bin überzeugt, dass die Weltöffentlichkeit mit mir einer Meinung ist, dass wir es nicht zulassen können, dass eine Handvoll Terroristen diesen Kern internationaler Zusammenarbeit und guten Willens zerstört, den die Olympischen Spiele darstellen.“

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Ob das richtig war? Das wurde damals wie heute kontrovers diskutiert. Das Publikum im Münchner Olympiastadion spendet Brundages Ausführungen Applaus, ein Journalist der „New York Times“ kritisiert das Szenario als „Motivationsveranstaltung“. Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) sagt am Abend nach der Geiselnahme im Bayerischen Rundfunk: „Es darf nicht sein, dass eine Gruppe rücksichtsloser Extremisten darüber bestimmen kann, ob große internationale Veranstaltungen stattfinden können oder nicht.“ 2017, zum 45-jährigen Gedenken des Attentats, sagt der damalige israelische Staatspräsident Reuven Rivlin: „Games must go on: An diesen Satz wird sich die Welt in ewiger Schande erinnern.“

„Regierungen machen keine Zugeständnisse an Terroristen“

IOC-Berater Desmarchelier analysiert die Entscheidung heute so: „Klar war: Es gab damals große Unterstützung der Israelis für eine Fortsetzung. Viele Athletinnen und Athleten wollten ihre Leistungen zudem den Opfern widmen – das zeigt, dass die Gefühle und Sichtweisen der Athletinnen und Athleten berücksichtigt worden sind.“ Der Australier ist der Überzeugung: „Wäre es nicht weitergegangen, hätten die Terroristen gewonnen und die Athleten hätten nicht in Solidarität mit ihren getöteten Freunden zusammenstehen können. Was wäre dann bei den nächsten Spielen passiert? Möglicherweise hätten wir den Sportlern zukünftig die Möglichkeit genommen, sich in diesem Rahmen zu messen.“ Mit einem Abbruch wäre man den Attentätern entgegengekommen, hätte einen Präzedenzfall geschaffen. „Deswegen machen Regierungen, allgemein gesprochen, keine Zugeständnisse an Terroristen“, erklärt Desmarchelier.

Hilft, Olympische Spiele zu schützen: David Desmarchelier

Hilft, Olympische Spiele zu schützen: David Desmarchelier

„Viele denken, dass die Entscheidung, Olympische Spiele trotz eines schwerwiegenden Zwischenfalls fortzusetzen, kommerzielle Gründe wegen all der Sponsoren hätte. In Wirklichkeit geht die Entscheidungsfindung weit darüber hinaus. Das Gastgeberland muss Terroristen am Ende eines deutlich machen: Auf unserem Territorium werdet ihr nicht erfolgreich sein!“, sagt er.

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Immerhin wiederholten sich entsprechende Ereignisse wie 1972 oder 1996, als ein Attentäter während der Sommerspiele in Atlanta mit einem Bombenanschlag zwei Menschen tötete und 111 weitere verletzte, nicht. „Die Spiele sollen so sicher sein wie möglich. Und jeder Athlet sollte im Startblock hocken und auf die Laufbahn blicken können, ohne sich dabei einen einzigen Gedanken über seine Sicherheit machen zu müssen. Wenn wir das für die Athleten schaffen, ist der Rest gar nicht mehr so schwierig“, beschreibt der 55-Jährige seine Aufgabe.

Australier hat zwei Jahrzehnte Erfahrung beim Schutz von Sportveranstaltungen

Seine Rolle: „Wir sind ein bisschen wie der Caddy im Golf oder wie ein Sherpa, der Bergsteigern auf den Mount Everest hilft.“ Denn natürlich sind in erster Linie die Behörden des jeweiligen Gastgeberlandes für die Sicherheit während der Olympischen Spiele zuständig. Doch mit seiner Expertise von mehr als zwei Dekaden Arbeit für das IOC kann der Australier beraten.

Nächstes Ziel für ihn sind die Olympischen Sommerspiele in Paris 2024. Und die bergen ganz besondere Herausforderungen. Denn derart ins Stadtbild wurde das „Treffen der Jugend der Welt“ noch nie integriert. So sind die Beachvolleyball-Wettkämpfe in einem Stadion im Schatten des Eiffelturms geplant. Und die Eröffnungsfeier am 26. Juli in zwei Jahren wird nicht in einem Stadion, sondern auf der Seine ausgetragen. Boote sollen die Mannschaften über eine sechs Kilometer lange Strecke von der Pont d‘Austerlitz bis zum Trocadéro bringen. Am Ufer der Seine wird mit einem Spalier aus mehr als 600 000 Zuschauerinnen und Zuschauern gerechnet.

Die Bilder, die dabei entstehen könnten, versprechen, spektakulär zu werden. Und sie könnten der nach Jahren voller Korruptions- und Gigantismusvorwürfe sowie der coronabedingten Notaustragungen in Tokio (Sommer) und Peking (Winter) kriselnden Olympischen Bewegung einen Schub geben. Wenn denn alles glattgeht. Sicherheitsexperten wiederum sehen die Risiken solch gigantischer Menschenansammlungen – trotz 11 000 Polizisten, die jeden Tag in der Hauptstadt ihren olympischen Dienst tun sollen, und sogenannter Antidrohnen, die den Pariser Himmel mit Sprengstoff gefüllten Terrordrohnen absuchen sollen.

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„Terroristen respektieren keine Staatsgrenzen“

Desmarchelier hält das olympische Sicherheitsteam für gut vorbereitet. „Das ist eine Erkenntnis der vergangenen 20 Jahre: Das Ausrichterland nimmt die Ratschläge der internationalen Experten für Sicherheit und der Geheimdienste gern an. Denn Terroristen respektieren halt keine Staatsgrenzen. Und der französische Staat ist sich der Bedrohung auch aufgrund der eigenen schrecklichen Erfahrungen von 2015 sehr bewusst. Das Engagement für sichere Spiele ist sehr groß – dies beginnt mit Staatspräsident Macron“, sagt er. Der Berater ist sich sicher: „Paris arbeitet sehr hart. Von den höchsten Regierungsämtern bis zu den Menschen, die im Organisationskomitee arbeiten, haben alle auch den Fokus auf Sicherheitsfragen gerichtet.“

Mit Blick auf Maßstab und Umfang der Olympischen Spiele geht es bei der Ausrichtung um nicht weniger als die Reputation des ausrichtenden Staates. Entsprechend sind „alle beteiligten Institutionen jedes Mal hervorragend auf Ereignisse vorbereitet, die hoffentlich nie eintreten“. Die Bandbreite reicht dabei von Terrorismus über Cyberattacken bis zu schnödem Handtaschenraub oder Markenrechtsverletzungen.

Wer nun denken mag, dass Desmarchelier sich vor Olympischen Spielen besonders auf die Abschlussfeier freut, weil dann all der Stress vorbei ist, alle Bedrohungen abgewendet sind, liegt falsch. Für den olympischen Sicherheitsexperten bleibt die Eröffnungsfeier das Nonplusultra: „Wir haben sieben Jahre so viel vorbereitet, mit so vielen Leuten. Da gibt einem die Eröffnungsfeier noch mal einen richtigen Schub für die folgenden Wochen. Es ist solch ein starkes Ereignis, all die Athletinnen und Athleten, die Gastgeberstadt und die Vertreter des Gastgeberlandes zu sehen.“ Und anschließend hoffentlich friedliche Spiele zu genießen, die mit dem Fazit zu Ende gehen, das Desmarchelier bisher am liebsten gehört hat: „Kein einziges Verbrechen hat den Erfolg der Spiele beeinflusst.“

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