Unsere scheinheilige Spielmoral
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Bitte um Gas: Robert Habeck im März zu Besuch beim Emir von Katar.
© Quelle: Dominik Butzmann
Berlin. Die Szene liegt erst ein knappes Dreivierteljahr zurück. Und doch scheint sich zum Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft, inmitten all der Wellen der Empörung, niemand mehr an sie zu erinnern. Oder sich an sie erinnern zu wollen.
Damals, im März, fliegt der Bundeswirtschaftsminister nach Katar. Es ist da erst wenige Wochen her, dass der russische Präsident und seine Armee die Ukraine überfallen haben, und Deutschland dämmert, dass es künftig mit russischem Gas schwierig werden dürfte. In dieser Situation also besucht der Grüne Robert Habeck den Emir, verbeugt sich vor dem Herrscher im weißen Gewand. Eine hochsymbolische Szene, festgehalten von unzähligen Kameras. Die Hoffnung auf Gas jedoch rechtfertigt da schon jede Demut. Die Bilder markieren den Beginn von Habecks großer Beliebtheit, nicht deren Ende.
Katar 2022: Irritationen um umstrittene Fußball-WM
Die Behörden des Emirats beschlossen, die Verkaufsstellen für Bier aus dem Umkreis des Stadions der Weltmeisterschaft zu verbannen.
© Quelle: Reuters
Fort ist alle Demut
Ein paar Monate später fährt dann wieder ein Bundesminister nach Katar, Innenministerin Nancy Faeser. Von Demut jedoch ist hier weit weniger zu spüren. Schon bevor die SPD-Politikerin losfliegt, kritisiert sie, dass die WM überhaupt in Katar stattfindet, und nennt die Vergabe „total schwierig“.
Anschließend sind die Katarer sauer. Und sie haben ja auch einen Punkt. Uns die Bude zu wärmen, dafür sind sie gut genug. Aber Fußball spielen, das wollen wir bei ihnen dann doch lieber nicht? Soll das irgendwie zusammenpassen?
Katar, um daran keinen Zweifel aufkommen zu lassen, ist, allen anderen Anzeichen zum Trotz, noch immer ein hochproblematisches Land. Reaktionär, minderheitenfeindlich, frauenfeindlich, ausbeuterisch. Aber kommt die Kritik daran, kommen die Zweifel vielleicht, sagen wir: etwas spät? Und ist die Kritik nicht vielleicht: ziemlich bigott?
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„Es ist anders als sonst“: So denkt der Weltmeisterkapitän über das Turnier in Katar
Debatte um Menschenrechte und Nachhaltigkeit: Die anstehende Weltmeisterschaft in Katar ist auch für DFB-Ehrenspielführer Philipp Lahm eine besondere. Trotzdem freut sich der amtierende Titelträger von 2014 und Turnierdirektor der Heim-EM 2024 auf den sportlichen Wettkampf.
Katar ist der ungeliebte Partner des Westens
Die Wirklichkeit des Emirats Katar, des Zwergstaats am Golf, kleiner als Schleswig-Holstein, ist, soweit man das von außen sagen kann, kompliziert. Als die USA im vergangenen Jahr überstürzt aus Afghanistan abzogen und Tausende von Afghaninnen und Afghanen den Flughafen belagerten, waren es katarische Flugzeuge, die die Menschen in Sicherheit brachten. Als die USA mit den Taliban verhandeln wollten, taten sie dies in Katar – dem einzigen Land, das sowohl eine Militärbasis der USA als auch eine Botschaft der Taliban beherbergt. Es sich mit keiner Seite ganz zu verderben, sich überall Einfluss zu sichern und die letzte gerunzelte Stirn mit einer ordentlichen Stange Geld zu glätten: Das ist die Strategie und Überlebensgarantie dieses Landes, das von so vielen stärkeren Ländern umgeben ist.
Im Inneren jedoch ist die Situation gerade für Homosexuelle verheerend. „Du wirst gefangen genommen oder umgebracht“, so beschreibt ein 28-Jähriger, der nach Deutschland geflohen ist, die Situation in seinem Heimatland. „Versteck dich oder flieh!“, das seien die einzigen Möglichkeiten. In der ZDF-Dokumentation „Geheimsache Katar“ nennt der WM-Botschafter Khalid Salman Schwulsein einen „geistigen Schaden“ – im Einklang mit den Herrschern, die Homosexualität nach wie vor unter Strafe stellen.
Tausende tote Arbeiter
Das Elend der Gastarbeiter, die die Arbeit für die rund 200.000 qua Geburt reichen Katarer und Katarerinnen erledigen, ist deprimierend oft beschrieben: 6500 sollen laut Recherchen des britischen „Guardian“ zwischen 2010 und 2020 in Katar umgekommen sein. Menschenrechtsorganisationen weisen darauf hin, dass sich die Situation der Gastarbeiter im Vorfeld der WM verbessert habe. Einen Entschädigungsfonds zum Beispiel lehnt die Regierung aber nach wie vor ab.
„Es ist eine traurige Ironie“, sagt der frühere Human-Rights-Watch-Geschäftsführer Kenneth Roth, „dass Katar reich genug wäre, die Gastarbeiter viel besser zu behandeln.“
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Hauptstadt-Radar
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Auf die Liste dessen, was den Ruf der Katarer ruinierte, gehört schließlich auch die Unterstützung von Islamisten in aller Welt: So finanzierte die Regierung zum Beispiel in Syrien die Nusra-Front, einen Al-Kaida-Nachfolger, der Zivilisten und Nichtmuslime tötete. Die Unterstützung stoppte Katar erst, als die USA darauf drangen.
Katarer im VW-Aufsichtsrat
Nur ist das alles kein Geheimwissen. Nichts, was westliche Regierungen ihren Agenten mühsam abringen müssten. Googeln reicht. Es führt nur zu nichts. Weil es etwas gibt, mit dem die Katarer die meisten Bedenken zu zerstreuen vermögen: Geld.
Katar ist der drittgrößte Gasproduzent der Welt. Wegen der steigenden Preise hat der Krieg in der Ukraine die Katarer noch reicher gemacht als ohnehin schon. Die Gewinne investiert eine eigens dafür vorgesehene Behörde, die Qatar Investment Authority, in Unternehmen in aller Welt. Über sie hält Katar Anteile an der Schweizer Großbank Credit Suisse und der Londoner Börse. In Deutschland ist Katar an der Deutschen Bank, Siemens und VW beteiligt. Dank der 17 Prozent Anteile sitzen im Wolfsburger Aufsichtsrat Hessa Sultan al Jaber, ehemals Ministerin in Doha, und der Chef der Investitionsbehörde, Mansoor Bin Ebrahim Al-Mahmoud, neben dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) und Ferdinand Porsche.
Paris Saint-Germain - der Außenposten Katars in der Champions League
Und dann ist da noch der Sport. Nichts, was harmloser und sympathischer wirkte als das Engagement bei einem großen Klub. Wenn im Achtelfinale der Champions League im Februar Bayern München gegen Paris Saint-Germain spielt, dann ist dies auch ein Duell Katar gegen Katar: Der eine Klub, PSG, gehört dem Emirat ganz, die Bayern werden von der Fluglinie des Landes gesponsert.
Katar also ist mit der deutschen Wirtschaft auf Engste verbandelt. Seit Langem. So besehen ist die absurde Winter-WM in heruntergekühlten Stadien, dieser Widersinn auf Rasen, nur die logische Folge der Gleichgültigkeit, die gegenüber diesem Thema jahrelang herrschte. Fußball-Bund und Politik hätten ja lange schon über einen Boykott reden, ihn beschließen können. Denn natürlich war die Vergabe ebenso dubios wie absurd. Aber einen Boykott wollte niemand. Also gibt es jetzt eine Meisterschaft im Kühlschrank. Fans, bitte sehr. Schaut dies.
Katar setzt Alkoholverbot während der WM nun doch durch
48 Stunden vor dem WM-Auftakt setzt sich Gastgeber Katar doch noch durch: Rund um die Stadien wird kein Alkohol verkauft.
© Quelle: dpa
Wir sehnen uns nach dem reinen Guten
Dabei kommt diese WM, an diesem Ort, im Grunde gerade zur rechten Zeit. Weil sie ein weiteres Mal die bittere Erkenntnis symbolisiert, die uns in Deutschland gerade durchweht: dass wir es nicht schaffen, uns nur im Reich des Guten und Wahren zu bewegen. Dass wir verflochten sind mit Menschen und Mächten, die andere Werte haben, andere Ziele als wir. Und dass es einfacher ist, über eine einzelne WM zu streiten oder über ein Containerterminal in Hamburg als über das Große und Ganze.
Denn der Streit und die Empörung über die WM und ihren Boykott erinnern auch an den Streit über die Beteiligung der chinesischen Staatsreederei Cosco am Terminal Tollerort. Auch da ging es sehr ausgiebig um dieses kleinste der Terminals im Hamburger Hafen und um die Beteiligung, die nun 24,9 statt 35 Prozent betragen soll, als sei allein damit Chinas Staatspräsident Xi Jinping schon in die Schranken verwiesen. Um die eine Million Arbeitsplätze, die in Deutschland am Handel mit China hängen, ging es dagegen vergleichsweise wenig. Weil es auch viel mühsamer ist, die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft zu reduzieren, als gegen den Verkauf von ein paar Hafenanteilen zu zürnen.
Schwierige Zeiten für die Moral
Mit der Moral in Politik, so dürfte es vielen geraden dämmern, ist es in Zeiten des Krieges nicht einfacher geworden. Dann kann man zum Beispiel, wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), noch so engagiert eine „feministische Außenpolitik“ fordern – und dann muss sie, wenn sie gefragt ist wie lange nicht, zu den Protesten im Iran doch weitgehend schweigen, weil man ja noch auf eine neues Atomabkommen hofft.
Dennoch erfüllt die späte Kritik an der Fußball-WM in Katar, so schwierig sie ist, noch eine wichtige Funktion: Sie wirkt wie eine Legitimation, die WM nun doch zu verfolgen. Es ist wie eine moderne Form des Ablasshandels: ein reines Gewissen gegen ein paar hilflose kritische Worte.
Und jetzt: Schaut Fußball!
Seht her, so sagen es die Innenministerin und der DFB-Präsident Bernd Neuendorf mit ihren Visiten: Wir haben ja alles versucht. Haben alle Themen noch mal angesprochen, hatten sogar queere Aktivisten dabei, aber mehr war nicht zu machen. Die Fahne der Moral – wir haben sie noch mal hochgehalten. Und jetzt geht‘s raus und schaut‘s Fußball.
Die Innenministerin Nancy Faeser wird selbst auch zur WM nach Katar fahren. Sie habe sich entschieden, sagte sie zuletzt. Den „weiteren Prozess“ wolle sie nun selbst verfolgen.
Und sich dann das erste Spiel der deutschen Mannschaft gegen Japan anschauen.