Der Wirecard-Skandal: Die Chronologie des Versagens
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Der Skandal um die Bilanzfälschungen des Dax-Konzerns übertrifft alles, was es bisher an Skandalen am deutschen Aktienmarkt gab.
© Quelle: Sven Hoppe/dpa
Es klingt seriös und innovativ: “Wirecard ist eine der am schnellsten wachsenden digitalen Plattformen im Bereich Financial Commerce – und zwar weltweit.” So steht es auf der Homepage des Unternehmens. Und weiter: “Wir bieten sowohl Geschäftskunden als auch Verbrauchern innovative Mehrwertservices rund um den digitalen Zahlungsverkehr: online, mobil und am Point of Sale.”
Wirecard steht nun jedoch spätestens seit dem zweiten Quartal 2020 auch für einen der größten Bilanzskandale der deutschen Wirtschaftsgeschichte.
I. Wirecard – das Unternehmen
Aktuell arbeiten den eigenen Angaben zufolge mehr als 5800 Menschen weltweit an 26 Standorten für das Unternehmen aus Aschheim in der Nähe Münchens. Zu den Kunden zähl(t)en unter anderem die niederländische Airline KLM, das O2-Mutterunternehmen Telefónica, Aldi oder Ikea.
Wirecard wurde 1999 gegründet und war anfangs vor allem auf die Abwicklung von Zahlungen von Porno- und Glücksspiel-Internetseiten fokussiert. Im Jahr 2002 übernahm der mittlerweile zurückgetretene Firmenchef Markus Braun den Vorstandsvorsitz. Braun baute das Geschäftsmodell um, besorgte die wichtige Vollbanklizenz für die Wirecard Bank und brachte das Unternehmen schließlich im September 2018 in die oberste deutsche Börsenliga, den Dax.
II. Das Geschäftsmodell
So wirklich greifen konnte man das Geschäft des Zahlungsdienstleisters noch nie. Man produziert keine Smartphones, Autos oder Klamotten und betreibt auch keine Verkaufsplattform wie beispielsweise Ebay.
Vielmehr hat Wirecard dafür gesorgt, dass Zahlungsströme in Milliardenhöhe bargeldlos zwischen Millionen Kunden und Hunderttausenden Händlern fließen konnten. Konkret heißt das: Wenn irgendwo im Internet oder in einem Laden am Kartengerät elektronisch bezahlt wurde, hat Wirecard dafür gesorgt, dass das Geld beim Empfänger ankommt, und kassiert dafür eine Gebühr. Diese Art von Geschäft benötigt Treuhandkonten. Denn bisweilen kauft jemand ohne gedecktes Konto ein. Dann begleichen von Wirecard gefüllte Treuhandkonten als eine Art Versicherung für den Händler offene Beträge.
In Europa betreibt Wirecard für diese Geschäfte eine eigene Bank. In Ländern, in denen Wirecard keine eigenen Lizenzen hat, ist der Konzern auf Drittanbieter angewiesen. Um Geschäfte zwischen zwei Vertragspartnern abzusichern, deponierte Wirecard auf Treuhandkonten Geld.
In Asien aber verfügt Wirecard, anders als in anderen Teilen der Welt, nicht über eigene Geschäftslizenzen. Dort ist alles über rund 100 Partner gelaufen. Es wurde Wirecard von diesen Dritten vermittelt. Treuhandkonten waren dort dennoch nötig. Die wurden für Asien bis 2018 in Singapur und ab 2019 auf den Philippinen geführt. Jedenfalls wurde das in Wirecard-Bilanzen behauptet, bevor im Frühjahr 2020 Wirtschaftsprüfer festgestellt haben, dass 1,9 Milliarden Euro, die eigentlich auf derartigen Treuhandkonten sein sollten, fehlten. Berichte über Unregelmäßigkeiten gab es aber schon lange. Und damit fing der eigentliche Skandal auch an.
III. Der Skandal – wie alles begann und was bis heute passierte
- Im April 2015 beginnt die britische “Financial Times” eine kritische Artikelserie mit dem Namen “House of Wirecard”. Ein Jahr später wirft ein britischer Investor dem Unternehmen betrügerische Machenschaften wie Korruption, Betrug und Geldwäsche vor. Daraufhin bricht der Kurs der Wirecard-Aktie das erste Mal massiv ein. Davon profitierten Investoren, die mit sogenannten Leerverkäufen auf fallende Kurse gesetzt hatten. Die deutsche Finanzaufsicht Bafin eröffnete daher eine Untersuchung wegen verbotener Marktmanipulation und erstattete Strafanzeige.
- Ende Januar 2019 kommt es wieder zu kritischen Berichten der “Financial Times”. Die Zeitung berichtet, dass ein hochrangiger Manager in Singapur 2018 womöglich Verträge gefälscht und Geldwäsche betrieben habe. Der Aktienkurs von Wirecard rauscht an diesem Tag im Dax um mehr als 20 Prozent ab.
- Wenige Tage später, Anfang Februar 2019, berichtet die “FT”, dass eine von Wirecard beauftragte externe Anwaltskanzlei bei einer Prüfung der Niederlassung in Singapur Belege für schwere Straftaten gefunden habe. Konkret soll es um Fälschungen bei Rechnungen gehen. Ein weiterer Bericht der “FT” folgt, in dem über den für Asien zuständigen Finanzchef von Wirecard geschrieben wird, wie das Unternehmen in Asien falsche Bilanzen vortäuschte. Die Zeitung schreibt weiter, dass ihr Dokumente vorlägen, die aufzeigen, dass zwei Führungskräfte in Deutschland davon zumindest Kenntnis hätten.
- Bis Mitte Februar 2019 kommt es zu weiteren Berichten der “FT” und auch zu Durchsuchungen in Singapur bei Wirecard. Zudem prüfen zur gleichen Zeit mehrere Kanzleien in den USA Sammelklagen gegen das Dax-Unternehmen.
Artikelserie der “FT” lässt Finanzmärkte aufhorchen
- Am 18. Februar 2019 verhängt die Finanzaufsicht Bafin noch einmal ein Verbot neuer Leerverkäufe in Wirecard-Aktien. Ab sofort ist es untersagt, neue Netto-Leerverkaufspositionen in Aktien von Wirecard einzugehen oder bestehende Netto-Leerverkaufspositionen zu erhöhen. Das Verbot gilt bis zum 18. April 2019. Die “FT” gibt nicht auf und prangert in einer Serie von Artikeln immer wieder Wirecard-Scheinumsätze im großen Stil und frisierte Bilanzen an.
- Ende März 2019: Wirecard probiert einen Befreiungsschlag und veröffentlicht wesentliche Ergebnisse des Prüfberichts der Singapurer Rechtsanwaltskanzlei namens Rajah & Tann. Wirecard sieht sich als entlastet an. Die Straftaten einzelner Mitarbeiter in Singapur würden sich nicht auf die Konzernabschlüsse auswirken. Komisch jedoch ist: Am gleichen Tag wird bekannt – die Bilanzvorlage wird verschoben. Ebenso reicht das Unternehmen Klage gegen die “FT” und den Redakteur ein, der die Serie an kritischen Berichten zu Wirecard veröffentlichte. Der Dax-Konzern will eine Unterlassung der Behauptungen der Zeitung und Schadensersatz erzielen.
- Zudem reagiert auch die Bafin Mitte April 2019 und erstattet Strafanzeige. Aber nicht gegen Wirecard, Manager oder Strippenzieher im Hintergrund, sondern gegen “FT”, Reporter und Spekulanten, die angeblich den Wirecard-Aktienkurs in den Keller schreiben wollten, um per Finanzwetten daran zu verdienen.
- Im Oktober 2019 kommen neue Vorwürfe der “FT” gegen Wirecard auf. Dieses Mal geht es um die Bilanzen in Irland und Dubai, es könnten zu hohe Gewinne ausgewiesen worden sein. Die Zeitung berichtet, dass das Wirecard-Partnerunternehmen in Dubai Al Alam Solutions heißt. Pikant ist: Die “FT” berichtet weiter, dass im Jahr 2016 die Hälfte des Gewinns von Wirecard durch das Unternehmen aus Dubai entstanden sei. Wenige Tage später kündigt Wirecard eine Sonderprüfung an, das Dax-Unternehmen will dazu die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG mit einer unabhängigen Untersuchung beauftragen.
- Dezember 2019: Die “FT” berichtet, dass die Berechnung des Cashflows (Bestand an liquiden Mitteln) des Dax-Konzerns im Jahr 2017 etwas verwirrend sei: So soll Wirecard in seiner Bilanz für 2017 auf Treuhandkonten geparkte Gelder zu den eigenen Barreserven hinzugerechnet haben. Das Unternehmen selbst weist dieses zurück, der Ausweis der Cash-Positionen entspreche dem Rechnungslegungsstandard IFRS.
- Ende April 2020: Der Prüfbericht von KPMG wird veröffentlicht, kann jedoch nur unbefriedigende Antworten liefern. Vor allem bei den Punkten, welche die “Financial Times” kritisiert hatte: Die Höhe und die Existenz der Umsätze aus dem sogenannten Drittpartnergeschäft in den Jahren 2016 bis 2018. KMPG weigert sich, dazu eine konkrete Aussage zu machen. An der Börse reagieren die Anleger mit drastischen Verkäufen der Aktie.
Opfer eines “gigantischen Betrugs”
- Anfang Mai 2020: Wirecard-Chef Braun wird zum Teil entmachtet. Er soll sich künftig auf die strategische Weiterentwicklung konzentrieren, die Abteilung für Finanzmarktkommunikation und Investor Relations wird bei Finanzchef Alexander von Knoop angesiedelt. Zudem wird ein Compliance-Vorstandsressort eingerichtet. Dieses soll ab 1. Juli der 49-jährige Amerikaner James Freis übernehmen.
- Ende Mai 2020: Wirecard kann einmal mehr nicht seine Konzernbilanz vorlegen und verschiebt diese. Ebenso die jährliche Hauptversammlung. Als Begründung gibt der Dax-Konzern an, dass es eine Mitteilung des Wirtschaftsprüfers Ernst & Young gebe, wonach noch nicht alle Prüfungshandlungen abgeschlossen worden seien.
- Anfang Juni 2020: Die Wirecard-Geschäftsräume in Aschheim werden von der Staatsanwaltschaft München durchsucht. Begründung: Es bestehe der Verdacht, “dass die Verantwortlichen der Wirecard durch die Ad-hoc-Mitteilungen vom 12.03.20 und vom 22.04.20 irreführende Signale für den Börsenpreis der Aktien der Wirecard AG gegeben haben könnten”, so die Mitteilung des Unternehmens, das noch ergänzt, dass sich die Ermittlungen gegen vier Vorstandsmitglieder richte und nicht gegen das Unternehmen selbst.
- 18.06.2020: Der Super-GAU. Wirecard meldet wenige Stunden vor der Bilanzpressekonferenz per Mitteilung, dass man die Veröffentlichung der Jahresbilanz erneut verschieben müsste. Die Wirtschaftsprüfer Ernst & Young hätten das Unternehmen darüber informiert, dass sie keinen Nachweis über die Existenz von im Konzernabschluss zu konsolidierenden Bankguthaben in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro hätten. Die Summe entspricht zum damaligen Zeitpunkt circa 25 Prozent der Konzernbilanzsumme. Ebenso teilen die Wirtschaftsprüfer mit, dass es Hinweise gebe, dass es zu Täuschungen gekommen sei. Wirecard selbst stellt am gleichen Tag Strafanzeige gegen unbekannt und sich als Opfer eines “gigantischen Betrugs” dar. An der Börse brechen alle Dämme und der Aktienkurs bricht massiv ein. In der Spitze um mehr als 66 Prozent.
- 19.06.2020: Der Vorstandschef des Dax-Konzerns, Markus Braun, tritt mit sofortiger Wirkung zurück. Interimschef wird der erst am Vorabend in den Vorstand berufene US-Manager James Freis.
- 22.06.2020: Die 1,9 Milliarden Euro, die Wirecard in der Bilanz fehlen, liegen offenbar nicht auf den Philippinen. Das teilt der Präsident der dortigen Zentralbank mit. Damit verdichten sich die Zeichen für einen Milliardenbetrug. Der Aufsichtsrat des Dax-Konzerns feuert den bereits suspendierten Vorstand Jan Marsalek nun “mit sofortiger Wirkung”.
- 23.06.2020: Ex-Chef Markus Braun kommt gegen einen hohe Kaution wieder auf freien Fuß, nachdem er zuvor festgenommen worden war.
- 25.06.2020: Der Zahlungsdienstleister ist pleite. Das Unternehmen will wegen Überschuldung und drohender Zahlungsunfähigkeit Insolvenz anmelden, wie der Vorstand in einer kurzen Ad-hoc-Mitteilung ankündigte. Möglicherweise wird der gesamte Konzern in den Abgrund stürzen: Der Wirecard-Vorstand prüft, ob auch die Tochtergesellschaften des Konzerns Insolvenz anmelden müssen – prominentestes Opfer wäre die Wirecard Bank.
- 28.06.2020: Nach dem Debakel um den Zahlungsabwickler Wirecard zieht die Bundesregierung erste Konsequenzen. Das Bundesjustiz- und das Bundesfinanzministerium möchte den Vertrag mit der DPR kündigen. Die EU-Kommission prüft nun das Vorgehen der Kontrolleure.
- 29.06.2020: Das Amtsgericht München hat für den Dax-Konzern einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Es ist der mit Großpleiten erfahrene Michael Jaffe. Er soll jetzt retten, was noch zu retten ist.
Kompetenzwirrwarr: Wer sollte Wirecard kontrollieren?
- 07.07.2020: Der Verkaufsprozess für die lukrativen Teile von Wirecard hat begonnen. Mehr als 100 Interessenten dafür hätten sich bislang gemeldet, teilte der vorläufige Insolvenzverwalter Michael Jaffe nach einer Sitzung des Gläubigerausschusses mit.
- 13.07.2020: Der Bilanzskandal beim Noch-Dax-Konzern Wirecard wird immer dubioser. Offenbar gibt es nicht nur ein Kompetenzwirrwarr auf Bundes- und Länderebene. Bisher ist ungeklärt, wer sich für die Kontrolle des Zahlungsdienstleisters eigentlich zuständig fühlte. Auch das Bundesfinanzministerium gerät unter Druck, weil es wichtige Informationen nicht mitteilen möchte.
- 18.07.2020: Der Skandal um Wirecard rückt zunehmend in Richtung einer politischen Affäre. Nach Finanzminister Olaf Scholz gerät nun das Kanzleramt ins Visier des Falls. Demnach soll Karl-Theodor zu Guttenberg im September 2019 in seiner Beraterfunktion für den Zahlungsdienstleister erfolgreich bei der Kanzlerin um einen Marktantritt in China geworben haben
- 20.07.2020: Der Wirecard-Skandal zieht immer weitere Kreise. Vor allem das Kanzleramt und das Finanzministerium stehen unter Druck. Die Opposition fordert Aufklärung – es droht ein Untersuchungsausschuss. Neuigkeiten gibt es auch von Jan Marsalek. Der ehemalige Wirecard-Vorstand wird nun in Weißrussland vermutet. Bereits wenige Stunden nach seiner Freistellung am 18. Juni soll sich der Österreicher auf den Weg gemacht haben.
- 21.07.2020: Das Kanzleramt rückt erneut in den Fokus der Kritik: Neben zu Guttenberg soll auch der frühere Beauftragte für die Nachrichtendienste des Bundes, Klaus-Dieter Fritsche, Kontakte zwischen dem Unternehmen und der Regierungsspitze eingefädelt haben. Laut Fritsche kam es tatsächlich zu einem Treffen zwischen Managern und Kanzleramtsmitarbeitern. “Ich ging damals davon aus, dass Wirecard eines der Unternehmen der digitalen Zukunft ist, deswegen habe ich ihnen geholfen”, sagte Fritsche. “Ich jedenfalls hatte keinerlei Grund, an der Seriosität des Unternehmens zu zweifeln.”
- 22.07.2020: Die Hinweise auf kriminelle Machenschaften bei Wirecard verdichten sich: Die Staatsanwaltschaft München gibt bekannt, erneut Haftbefehle gegen Ex-Chef Markus Braun und weitere Topmanager erwirkt zu haben. Sie wirft der Führungsriege vor, seit 2015 die Bilanzen aufgebläht zu haben. “In Wirklichkeit war den Beschuldigten seit Ende 2015 klar, dass der Wirecard-Konzern mit seinen Geschäften eigentlich Verlust erzielte”, sagte die Staatsanwaltschaftssprecherin. Nun werde wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, Untreue und Marktmanipulation jeweils in mehreren Fällen ermittelt.
IV. Die handelnden Personen im Wirecard-Skandal
Ex-Vorstandschef Markus Braun
Es war einmal unzweideutig, Markus Braun als Erfinder von Wirecard zu bezeichnen. Der Manager mit dem Habitus eines Techniknerds hat das Unternehmen 2002 praktisch neu gegründet und es 2018 als Vorstandschef bescheiden in den Dax geführt. “Ich lege keinen Wert auf Bekanntheit”, hat er damals erklärt und sich rar gemacht.
Wirecard-Manager Jan Marsalek
Der flüchtige Wirecard-Manager Jan Marsalek steht im Zentrum des Skandals um den Dax-Konzern. Marsalek führte die operativen Geschäfte des Unternehmens und könnte vermutlich maßgeblich über die Unregelmäßigkeiten im Konzern aufklären. Umso weiter die Ermittlungen voranschreiten, desto deutlicher wird: Er scheint mehr als nur ein Leben geführt zu haben.
Finanzaufsicht Bafin und deren Chef Felix Hufeld
Der Bilanzskandal bei Wirecard hat auch die oberste deutsche Finanzaufsicht Bafin in den Fokus der Kritik geraten lassen. Ihr Chef Felix Hufeld gilt seit seinem Antritt vor fünf Jahren als “Bankenschreck”. Der Wirecard-Skandal bringt ihn nun in Erklärungsnot.
Bafin und Bundesbank hatten 2017 entschieden, Wirecard nicht als Finanzholding, sondern als Technologiekonzern einzustufen. Damit war die Bafin nur noch für die Wirecard Bank zuständig. Diese Entscheidung bestätigte später auch die Europäische Zentralbank.
Kontrolliert wurde das Unternehmen damit nur von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young, die die Bilanzen überprüfte, aber zunächst keine Unregelmäßigkeiten fand. Auch die als “Bilanzpolizei” fungierende Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), die 2019 von der Bafin mit einer Prüfung beauftragt wurde, schlug nicht Alarm.
Das Bundesfinanzministierium und Finanzminister Olaf Scholz
Im Bilanzskandal um den mutmaßlichen Milliardenbetrug beim Dax-Konzern Wirecard nimmt nun der Bundesrechnungshof mögliche Fehler der Finanzaufsicht Bafin und des Bundesfinanzministeriums ins Visier.
“Wir werden das System der Aufsicht – Struktur und Risikomanagement am Beispiel Wirecard – untersuchen und warum die Bafin offenbar die Anhaltspunkte nicht aufgegriffen hat”, sagte Bundesrechnungshof-Präsident Kay Scheller gegenüber dem “Spiegel”. “Wir werden dabei auch prüfen, wie das Bundesfinanzministerium und die Bafin mit den Vorwürfen falscher Bilanzen sowie mit den Berichten der Wirtschaftsprüfer umgegangen sind.”
Was wusste Bundesfinanzminister Olaf Scholz?
Aus einem Bericht des Bundesfinanzministeriums an den Finanzausschuss des Bundestags geht hervor, dass der Minister im Februar 2019 über das Leerverkaufsverbot und die Prüfung durch die “Bilanzpolizei” DPR informiert wurde. Zudem sei er davon unterrichtet worden, dass es Untersuchungen wegen des Verdachtes der Marktmanipulation gebe.
Und: “Es wurde darauf hingewiesen, dass die Bafin in alle Richtungen untersucht.” Die Bafin hatte das Leerverkaufsverbot allerdings bereits am Vortag öffentlich angekündigt und mit dem Verdacht der Manipulation des Aktienkurses begründet. Zumindest in dieser Hinsicht erfuhr Scholz also nichts Neues. In den Folgemonaten bekam das Ministerium dem Bericht zufolge regelmäßig Berichte der Bafin.
Im November 2019 sprach Finanzstaatssekretär Jörg Kukies mit Wirecard-Chef Braun. “Gegenstand des Gesprächs waren auch der Marktmanipulationsverdacht sowie die begonnene KPMG-Sonderprüfung”, heißt es im Bericht an den Ausschuss. Das Gespräch sei nicht protokolliert worden. Weitere Informationen an den Minister sind in dem Bericht nicht vermerkt. Es kann aber angenommen werden, dass Kukies mit Scholz über den Fortgang der Ereignisse gesprochen hat.
Kann der Fall Wirecard für Scholz gefährlich werden?
Ja. Denn grundsätzlich stellt sich folgende Frage: Warum wurde weder bei der Bafin noch im Finanzministerium in Betracht gezogen, dass die verschiedenen Berichte über Missstände bei Wirecard nicht der Manipulation von Aktienkursen dienten, sondern schlicht der Wahrheit entsprachen?
Warum wurde nicht die Reißleine gezogen und Wirecard der Aufsicht der Bafin unterstellt, die dann genauer hätte kontrollieren können?
Der Minister ließ sich zwar informieren, handelte aber nicht. Der Grünen-Finanzpolitiker Danyal Bayaz spricht von einem “System kollektiver Unverantwortlichkeit”. Bisher wird Scholz von der Opposition nur vorgeworfen, die Parlamentarier noch nicht ausreichend informiert zu haben.
Es könnten aber weitere Vorwürfe erhoben werden, die sich aus der Verantwortung des Ministers für den gesamten Bereich der Finanzaufsicht ergeben. Zur umfassenden Aufklärung des Skandals hat die FDP einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ins Spiel gebracht. Am Mittwoch kommender Woche wird sich der Finanzausschuss in einer Sondersitzung damit beschäftigen. Ebenfalls dabei: Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Nach Angaben aus dem Ausschuss haben beide ihr Kommen zugesichert.
RND/casc/dpa