Warngeräusche für Fußgänger

Elektromobilität: neue Autos, neue Fahrzeugklänge

Stromschnelle: Bis zu 180 km/h bekommt der ID4 GTX Auslauf, die anderen E-Autos der ID-Reihe regelt VW bereits bei 160 km/h ab.

Auch Volkswagens ID4 GTX hat ein ausgeklügeltes Klangsystem, das vor allem Fußgängern signalisiert, dass sich ein Auto nähert.

Anhaltender Verkehrslärm ist lästig und kann zu psychischen Problemen führen – das ist in zahlreichen Studien nachgewiesen worden. Deshalb haben Wissen­schaft­lerinnen und Wissenschaftler jahrzehnte­lang daran geforscht, wie man Fahrzeuge, vor allem Antriebe und Reifen­geräusche, sowie Straßen leiser machen kann.

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Mit den ersten Elektroautos kam in den 2000er-Jahren jedoch eine Debatte auf, die in die gegenteilige Richtung ging: Nun hieß es, dass der leise Elektromotor ein Sicherheits­risiko im Straßenverkehr sein könne.

Die bis heute dominierenden Fahrzeuge mit Verbrennungs­motor sind schon im Stehen mit laufendem Motor hörbar. Elektro­fahrzeuge jedoch, so die Befürchtung vieler Verbände von Blinden und Seh­behinderten, könnten bei langsamer Fahrt kaum akustisch wahr­genommen werden. Dabei geht es nicht um eine Ablehnung der E-Mobilität, wie der Verband European Blind Union (EBU) in einer Veröffentlichung von 2019 betont: „Die EBU unterstützt eindeutig die Reduzierung der CO₂-Emissionen durch den Einsatz von Elektro­fahrzeugen. Gleichzeitig hat die EBU das letzte Jahrzehnt damit verbracht, sich für eine Lösung für die Gefahren durch Fahrzeuge mit niedrigen Schall­emissionen einzusetzen.“

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Akustisches Warnsystem ist Pflicht – und umstritten

Die EBU und andere Befürworter erhöhter Verkehrs­sicherheit haben schon einiges erreicht. So heißt es in der 2014 vereinbarten EU-Verordnung Nr. 540/2014, dass neue Elektroautos mit einem akustisches Fahrzeug-Warnsystem (AVAS, Acoustic Vehicle Alerting System) ausgestattet werden müssen: Seit Juli 2019 gilt diese Vorschrift für neue Modelle mit Hybrid- oder Elektroantrieb, seit 2021 für alle neu produzierten derartigen Fahrzeuge. Ältere Stromer können, müssen aber nicht nachgerüstet werden.

Die Vorschrift ist nicht unumstritten. „Wir halten die Regelung der EU-Kommission für völlig falsch“, sagt etwa der renommierte Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des Instituts Center Automotive Research (CAR) in Duisburg. Die Fortschritte bei der Verringerung des Verkehrslärms sollten seiner Auffassung nach nicht durch künstliche Geräusche zunichte gemacht werden. Stattdessen setzen er und seine Mitstreiter auf Assistenzsysteme, sowohl für Blinde und andere Menschen mit Handicap als auch für Neufahrzeuge, beispielsweise automatische Notbrems­systeme.

Dudenhöffer beruft sich auf eine Studie seines Instituts aus dem Jahr 2011. Damals führte CAR drei Versuchsreihen mit Akustik- und Wahrnehmungs­tests mit insgesamt 240 Probanden durch. Von den Teilnehmern waren 14 Prozent schwerhörig und 20 Prozent blind oder sehbehindert. Die Untersuchungen wurden mit elf Fahrzeug­typen mit unterschiedlichen Antrieben (Elektro-, Benzin-, Dieselmotor) vorgenommen. Im Ergebnis fanden die Forscher bei Geschwindig­keiten von 30 und 40 Stundenkilometern nur geringe Wahrnehmungs­unterschiede zwischen E-Mobilen und Verbrennern. Erst bei hochtourigem Fahren oder Vollgas hätten sich deutliche Unterschiede gezeigt, schrieben die Studienautoren.

Auch Verbrenner mit Start-Stopp-Funktion sind leise

Mit Start-Stopp-Systemen, die den Motor auch bei kurzen Standzeiten ausschalten, lässt sich Kraftstoff einsparen; deshalb werden immer mehr Benziner damit ausgestattet. „Wenn diese Autos an der Ampel stehen, sind sie genauso wenig zu hören wie Elektroautos“, betont Dudenhöffer. Entweder sollte das Warnsystem AVAS bei allen leisen Fahrzeugen eingesetzt werden, unabhängig vom Antrieb, oder in keinen Fahrzeugen – der Autoexperte plädiert für die zweite Möglichkeit. Er kritisiert auch viele Studien, denn die akustische Wahrnehmung der meisten Menschen sei nicht objektiv: So würden rote und schwarze Autos als lauter wahrgenommen als Fahrzeuge mit helleren Farben.

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Auch das Umwelt­bunde­samt (UBA) steht eher auf der Seite derjenigen, die den Lärm vermindern wollen. E-Autos seien bei geringen Geschwindig­keiten zwar leiser als andere. Ab etwa 30 Stunden­kilometern dominieren laut UBA jedoch in der Regel die Abroll­geräusche der Reifen aus der Fahrbahn, „sodass die Vorteile bezüglich der Schall­emissionen der elektrisch angetriebenen Kraft­fahr­zeuge gegenüber Kraft­fahr­zeugen mit Verbrennungs­motoren entfallen“, schreibt es im Abschlussbericht „Lärmtechnische Bewertung des Acoustic Vehicle Alerting System (AVAS)“ vom September 2021.

Darin erkennt das UBA zwar an, dass das Warnsystem AVAS in der Übergangs­phase zu vorwiegend elektrischem Verkehr erforderlich sei. Zugleich mahnen die Experten aber: „Eine regelmäßige Überprüfung der Vorgaben von AVAS-Systemen kann zur Verbesserung der Warnqualität führen und minimiert gleichzeitig akustische Emissionen.“ Das UBA setzt für die Verkehrs­sicherheit außerdem auf andere Maßnahmen, wie verbesserte Unfall­analysen, Zusatz­geräte für Personen mit Einschränkungen und Fahrer­assistenz­systeme.

Elektroautos werden später wahr­genommen

Deutliche Unterschiede zwischen Elektroautos und Benzinern fand hingegen Ercan Altinsoy von der Technischen Universität Dresden. Von 2009 bis 2013 untersuchte er im Team mit anderen Forschern der TU Dresden die akustische Wahrnehmung von Fahrzeugen mit geringer Geschwindigkeit. Dabei ging es unter anderem um näher­kommende Autos mit mäßiger Beschleunigung vor einem mittellauten Hintergrund: „Wird ein heran­nahendes Fahrzeug mit Verbrennungs­motor im Mittel in einer Entfernung von 36 Metern wahr­genommen, so wird ein gleich schnelles Elektro­fahrzeug im Mittel erst im Abstand von 13 Metern wahr­genommen“, schrieben die Wissen­schaft­lerinnen und Wissenschaftler.

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Ähnlich war das Ergebnis bei anfahrenden Autos auf einem Parkplatz: Fahrzeuge mit Verbrennungs­motor wurden durch­schnittlich eine Sekunde nach dem Anfahren erkannt, E-Mobile erst nach drei Sekunden. „Das entspricht in der Bewertungs­situation einem Zeitraum, in welchem schon eine Kollision stattfinden kann“, heißt es in der Studie, die von der Forschungs­vereinigung Auto­mobil­technik (FAT) veröffentlicht wurde.

Ein AVAS-Geräusch, wie es die EU-Verordnung vorschreibt, war aber nicht Altinsoys erste Wahl. „Man könnte zum Beispiel die aktuellen Hinter­grundgeräusche messen und die Lautstärke des künstlichen Sounds darauf abstimmen“, erklärt er. Doch der Fahrzeug­industrie sei dies zu teuer und zu unsicher gewesen. Auch andere wissen­schaftliche Vorschläge, wie die Nutzung bestimmter Frequenzen, die auch bei niedriger Lautstärke gut hörbar sind, oder visuelle Systeme zur Fußgänger­erkennung mit gezielter Warnton­abstrahlung, stießen auf Ablehnung.

Stattdessen schrieb 2014 die EU-Verordnung Nr. 540/2014 im Anhang VIII fest: „Das AVAS muss ein Dauer­schall­zeichen erzeugen, das Fußgänger und andere Verkehrs­teilnehmer vor einem in Betrieb befindlichen Fahrzeug warnt.“ Die Beschallung solle zudem bis zu einer Geschwindigkeit von 20 Stundenkilometern eindeutig auf das Fahrzeug­verhalten (Beschleunigung, Bremsen) hinweisen und mit dem Klang eines mit Verbrennungs­motor ausgestatteten Fahrzeugs der gleichen Klasse vergleichbar sein. Altinsoy berichtet, er sei zunächst dafür gewesen, dass alle Fahrzeuge derselben Klasse das gleiche Geräusch von sich geben. Doch die Freiheit bei der Sound­gestaltung, die die Verordnung lässt, wollten die Auto­mobil­hersteller marken­individuelle Sounds nutzen.

Letztlich profitierte Altinsoy davon, denn er bekam von mehreren Herstellern Aufträge, passende Klänge zu entwickeln. Wie aber entwickelt man einen Fahrzeug­sound? „Das ist ähnlich wie beim visuellen Design: Üblicherweise definiert man drei Kriterien, zum Beispiel freundlich, hochwertig, Fahrspaß, und versucht dies dann im Sound umzusetzen.“ Die gesetzlichen Vorgaben müssten natürlich berücksichtigt werden und bei etablierten Marken auch frühere Klangwelten. Bekannte Effekte aus der Musik könnten dabei hilfreich sein: So wirkten harmonische Klänge meist warm und freundlich, dissonante Klänge könnten als Warnung aufgefasst werden.

Star-Komponisten sollten bei der Entwicklung des unverwechsel­baren Sounds unterstützen

In den vergangenen Jahren haben alle Auto­produzenten mehr oder weniger großen Aufwand betrieben, um für das AVAS unverwechsel­bare Sounds zu entwickeln. BMW holte sich sogar den Hollywood­komponisten Hans Zimmer („Der König der Löwen“) ins Tonstudio. Für Volkswagen wurde der Musiker und Produzent Leslie Mandoki aktiv. Doch auch für die konzerneigenen Designer und Akustiker bleibt genügend Arbeit.

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„Zunächst einmal muss der Sound für Passanten nach­vollzieh­bar und authentisch sein“, erläutert Ingo Hapke, der bei Volkswagen das Akustik­team leitet. Dazu könne man Fahrzeug­geräusche aufgreifen, etwa Rollgeräusche. „Dann aber wird eine künstlerische Komponente daraufgesetzt, die den Marken­charakter verkörpert.“ Für Hapke ist es wichtig, dass der Sound nicht stört und dass es nicht zu unangenehmen Wechsel­wirkungen mit Umgebungs­geräuschen oder den Sounds anderer Fahrzeuge kommt.

Solche und weitere Argumente hat VW bei der Entwicklung der neuen ID-Reihe beachtet. „Für unsere ID-Modelle haben wir einen komplett neuen Sound geschaffen. Wichtig war uns dabei, einen

Sound zu kreieren, den Passanten direkt mit einem Fahrzeug in Verbindung bringen – der aber gleichzeitig etwas komplett Neues darstellt“, sagt Indra-Lena Kögler, User-Experience-Designerin bei Volkswagen und verantwortlich für das gesamtheitliche Sound­erlebnis in den ID-Modellen (User Experience: Nutzererfahrung). „Das Besondere beim Sound der ID-Familie ist, dass er auf die optische Gestaltung der Fahrzeuge abgestimmt ist“, unterstreicht Kögler. So würden etwa die dynamischen Flächen im Außensound durch lebendige Tiefen verstärkt.

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Im Fahrzeuginneren wiederum sind die Soundeffekte minimiert und auf das Lichtdesign abgestimmt. Für die Insassen soll die Laufruhe des Elektromotors spürbar werden. „Die wichtigste Emotion bei den Elektrofahrzeugen im Innenraum war für uns die Ruhe; daran haben wir alle anderen Innen­raum­geräusche ausgerichtet – heißt: Man muss auch die Musikanlage nicht so hoch drehen wie bei einem Verbrenner“, stimmt Kögler zu. Wenngleich die Akustiker und Designer zufrieden mit ihrem Werk sind, ist Hapke überzeugt, dass für ihn und sein Team genug zu tun bleibt: „Wir werden mehr Rück­meldungen von Kunden bekommen, die Konkurrenz beobachten und am Trend der Zeit bleiben.“ Und vielleicht werde die Politik bei einer weiteren Zunahme von Elektrofahr­zeugen im Straßenverkehr auch wieder die AVAS-Regularien ändern.

RND/dpa

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