Entega-Chefin: De facto blockiert Politik den Ausbau erneuerbarer Energien
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Erneuerbare Energien (Symbolbild)
© Quelle: Christian Charisius/dpa/dpa-tmn
Frankfurt. Marie-Luise Wolff ist die Präsidentin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) sowie die Chefin des Darmstädter Energieversorgers Entega. Sie hat Anglistik und Musikwissenschaft studiert und ist seit über 20 Jahren als Managerin in der Energiebranche tätig. Im RND-Interview fordert sie in der Klimadebatte mehr Ehrlichkeit von Politikern und Klarheit bei den Vorgaben für mehr Wind- und Sonnenenergie.
Frau Wolff, wie hat sich Ihr Blick auf die Welt durch die Ereignisse der vergangenen Tage verändert?
Durch die Flutkatastrophe hat sich bestätigt, dass wir dringend mehr Klimaschutz brauchen. Zudem ist deutlich geworden, dass daneben sehr viele Klimaanpassungsmaßnahmen nötig werden. Seien es mehr Regenrückhaltebecken oder ein vorsichtigerer Umgang mit der Versiegelung. Es geht bis zu Fragen der Digitalisierung: Man kann nicht davon ausgehen, dass jeder neben seinem Bett ein Smartphone mit einer Warn-App liegen hat. Dabei darf man nicht vergessen, dass wir auch noch Sirenen brauchen. Was da in puncto Warnung der Bevölkerung an Erkenntnissen zutage kommt, muss Konsequenzen haben.
Klimaschutz wird noch komplexer durch den Aspekt Bevölkerungsschutz?
Kompliziert war das Thema immer. Aber Sie haben recht. Die Lösungsszenarien sind umfassender und noch anspruchsvoller geworden.
Was fordern Sie als erste Maßnahmen von der neuen Bundesregierung?
Die neue Bundesregierung muss eine Entfesselung des Ausbaus der erneuerbaren Energien vorantreiben. Alle Spielräume für mehr Flächen zur Errichtung neuer Anlagen müssen ausgereizt werden. Bislang hatten wir in einigen Ländern eher eine Flächenverhinderungspolitik. Das muss sich ändern. Es geht nicht mehr, dass Politiker einerseits pauschal für mehr Klimaschutz plädieren und andererseits den Ausbau der Erneuerbaren de facto blockieren.
Ist es mit mehr Flächen für Wind- und Solaranlagen getan?
Wir brauchen konkrete Ausbaupfade für die Erneuerbaren. Wir haben bislang nur eine Überschrift: Netto-Klimaneutralität im Jahr 2045. Die Ausbaupfade für Wind- und Sonnenenergie müssen deutlich erhöht werden. Hier brauchen wir schnellstmöglich Klarheit. Immerhin hat Wirtschaftsminister Altmaier gerade seine Strombedarfsprognose für 2030 erhöht auf 665 Terawattstunden. Damit hat er eine Kehrtwende vollzogen und damit verändert sich eine ganze Welt. Dass wir das erst jetzt zehn Wochen vor der Bundestagswahl hören, ist bemerkenswert – es ist fünf vor zwölf.
Sind die Bürger überhaupt bereit, Maßnahmen mitzutragen, deren Wirkung erst in 50 oder 70 Jahren erkennbar wird?
Der BDEW hat gerade eine Umfrage veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass derzeit für zwei Drittel der Befragten der Ausbau der Erneuerbaren zu langsam vorangeht.
Aber die Politik traut sich nicht, die Konsequenzen des Klimaschutzes zu benennen?
Ja. Der Politik fällt es schwer, jetzt konkret zu sagen, was wir tun müssen, um Klimaneutralität zu erreichen. Wir brauchen mehr Wahrheit in der Politik. Wer derzeit beispielsweise über die notwendige Erhöhung der Benzinpreise spricht, muss aufpassen, vom politischen Gegner nicht vollständig diskreditiert zu werden. Das hilft nicht weiter. Aber der Wahlkampf ist in zehn Wochen vorbei.
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Marie-Luise Wolff, Präsidentin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) und Chefin des Darmstädter Energieversorgers Entega
© Quelle: BDEW
Lob für Volkswagen
Aber Zumutungen wie höhere Benzinpreise werden kommen und wieder für Aufregung sorgen.
Prognosen über Benzinpreise sind schwer. Ich möchte hier aber auf Folgendes hinweisen: Wir sehen, wie der Volkswagen-Konzern vorangeht, sich ehrlich macht und ankündigt, aus dem Verbrenner in den nächsten Jahren auszusteigen, weil das Management erkannt hat, dass eine neue Zeit mit Elektromobilität begonnen hat. Das macht Volkswagen, ohne dass ein Politiker Grausamkeiten verkünden muss.
Zweitens bringt der Klimaschutz enorme Wachstumschancen, nicht nur für Autobauer, sondern für alle, die in Infrastruktur investieren wollen, wie die Immobilien- und die Energieindustrie. Diese positiven Aspekte kommen in der öffentlichen Diskussion viel zu kurz. Die Bundesregierung muss nun die richtigen finanziellen Anreize setzen, damit die Firmen investieren. Und: Klimakompetenz ist auch Sozialkompetenz. Allen, die bei der Umstrukturierung Einbußen erleiden, muss Hilfe angeboten werden.
Aber wenn der Staat Pendler, die alte Autos mit Verbrennermotoren fahren, so stark unterstützt, dass sie von höheren Spritpreisen nichts mehr merken, dann werden sie nie Elektroautos kaufen. Wie können wir dann die berühmten Lenkungswirkungen erzielen?
Das erreichen wir auch dadurch, dass E-Autos deutlich billiger werden, das gilt besonders für den Vergleich mit den Premiumlimousinen mit Stromantrieb, die heute auf dem Markt sind. Ganz entscheidend ist darüber hinaus, zielgenaue und kluge Unterstützungskonzepte zu entwickeln, die zum Beispiel diejenigen besonders belohnen, die auf kleine E-Autos umsteigen.
Die EU will an Erdgas als Übergangslösung festhalten. Der BDEW ebenfalls. Der Klimaforscher Mojib Latif hat kürzlich aber sinngemäß gesagt, die Übergangslösung Erdgas zementiere eine Energieform, die sich überholt habe. Ist da was dran?
Wir kümmern uns um die Umsetzung. Dabei geht es um die Industrie, um die Versorgungssicherheit, aber vor allem auch um den Wärmemarkt. Jedes Haus in Deutschland ist anders gebaut, gedämmt, hat andere Fenster und so weiter. Wir müssen schnell einen Übergang zu klimafreundlicheren Lösungen hinbekommen, das steht fest. Dafür brauchen wir aber in manchen Fällen eine Zwischenlösung. Die Strom-Wärmepumpe kann zwar vielfach das Mittel der Wahl sein. Doch diese kann je nach Gebäudetyp erheblich teurer sein als ein Gas-Brennwertkessel, der im Übergang besser ist, als nichts zu tun.
Mehr staatliche Förderung für die Wärmewende
Schwierig wird es aber dann, rechtzeitig auszusteigen.
Wir steigen aus der Atomenergie Ende 2022 aus. Wir steigen jetzt mit einem vernünftigen Pfad aus der Kohle aus. Ich traue uns zu, dass wir auch bei Gas einen vernünftigen Übergang hinkriegen. Sonst erreichen wir nie netto null. Sie müssen auch bedenken, dass die Strom-Wärmepumpe im Hochgeschossbau in den verdichteten Städten nicht die richtige Lösung ist. Hier müssen wir zum Beispiel mit Nahwärmelösungen arbeiten, die jetzt noch mit Gas funktionieren. Eine Umstellung auf Wasserstoff als Brennstoff für die Wärmeerzeugung wäre dann später ohne große Probleme möglich. Natürlich ist das alles nicht einfach. Es wird aber funktionieren, wenn es eine intelligente Förderung solcher Lösungen durch den Staat gibt.
Wäre es nicht einfacher, Öl- und Erdgasheizungen von einem Stichtag an einfach zu verbieten?
Bei Heizungen wirkt der soziale Aspekt noch viel stärker als im Verkehr. Bei Menschen, die in Mietwohnungen leben, die bezahlbar bleiben müssen, halte ich es für gefährlich, ein Enddatum für eine Gasheizung zu setzen. Noch mal: Wir müssen in diesem Gebiet noch viel stärker mit finanziellen Förderungen durch den Staat arbeiten, als es bislang geschieht.
Die Industrie und ihre Lobbyisten machen massiv Werbung für grünen Wasserstoff. Dabei weiß niemand, woher die gigantischen Mengen an Ökostrom herkommen sollen, um den Wasserstoff zu erzeugen. Was halten Sie von dem Hype?
Wenn Sie die große Industrie – insbesondere Stahl, Zement, Dünger und Chemie – in Deutschland halten wollen, dann müssen Sie auf Wasserstoff umstellen. Die Industrie hat einen enormen Erhaltungs- und damit auch Transformationsdruck. Deshalb kann ich den Eifer der Industrie verstehen. Richtig ist aber auch, dass viele Fragen beim Wasserstoff noch nicht beantwortet sind. Andererseits wurde vor 20 Jahren über die Erneuerbaren genauso gesprochen. Und Deutschland hat eine enorme technologische Begabung.
Technologische Begabung allein wird nicht reichen. Es wird eine enge internationale Kooperation brauchen, um grünen Wasserstoff über Pipelines nach Deutschland zu bringen. Noch so ein dickes Brett?
Das wird ein europäisches Spiel und bietet damit die Chance, dass die EU über die Energieversorgung der Zukunft zusammenwächst.
Sie haben die fehlende positive Perspektive beklagt. Wie kann – in Stichworten – Deutschland 2045 unter günstigen Umständen aussehen?
Ich sehe menschengerechtere Kommunen, in denen Autos nicht mehr Vorfahrt haben. Die Lebensqualität in Innenstädten ist durch öffentlichen Verkehr wesentlich höher. Wir leben gesünder. In der Industrie gibt es viele neue zukunftsorientierte Arbeitsplätze. Denn wir brauchen eine digitale Klimatechnologie. Und Amazon wird sie uns nicht liefern. Klar ist auch, mit Pessimismus kommen wir nicht weiter.