„Webb“-Teleskop zeigt uralte Galaxien

Es werde Licht! Wie ein kosmisches Wimmelbild unsere Welt verändert

Ein galaktisches Selfie der Babyjahre des Universums: Das von der US-Weltraumbehörde Nasa zur Verfügung gestellte Bild zeigt den Galaxienhaufen „SMACS 0723“, aufgenommen mit dem James-Webb-Weltraumteleskop.

Ein galaktisches Selfie der Babyjahre des Universums: Das von der US-Weltraumbehörde Nasa zur Verfügung gestellte Bild zeigt den Galaxienhaufen „SMACS 0723“, aufgenommen mit dem James-Webb-Weltraumteleskop.

Sie nannten sich „Moonwalker“. Die zwölf Männer, die das bisher größte Abenteuer der Menschheit an Leib und Seele erlebten: den Gang auf dem Mond. Die Nasa-Astronauten waren Testpiloten, harte Hunde, Soldaten – keine Philosophen oder Männer des Wortes. Doch dann, nach drei Tagen und vier Stunden in einer engen Kapsel im kosmischen Nirgendwo, erlebten sie 380.000 Kilometer von der Erde entfernt Dinge, die sich dem menschlichen Verstehen verweigern. „Ich stand auf der Mondoberfläche, sah auf meine Stiefel und sagte mir: ‚Das hier ist der Mond‘“, berichtete Alan Bean, der am 19. November 1969 mit „Apollo 12″ als vierter Mensch den Mond betrat. „Und dann sah ich hoch und sagte zu mir: ‚Und das da oben ist die Erde.‘ Hier der Mond. Dort die Erde.“ Immer wieder sagte er sich: „Ich bin wirklich hier.“

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Forscher, die in Tränen ausbrechen

Das Bewusstsein für die furchterregende Einsamkeit der Menschheit in der endlosen Leere verstörte die Apollo-Astronauten zutiefst – und rührte gleichzeitig ihr Herz. Ein Hauch dieses Gefühls, eine Ahnung von der unbeschreiblichen Gewaltigkeit des Universums liefern die ersten Bilder, die das Weltraumteleskop „James Webb“ in diesen Wochen zur Erde funkt. So prachtvoll, so bedeutend und von einer solchen glamourösen Schönheit sind diese Bilder der „tiefsten und schärfsten bislang aufgenommene Infrarotsicht auf das Universum“ (Nasa), dass gestandene Forscher, ihrer angesichtig, in Tränen ausbrachen.

„Schon der Gedanke, dass ein Teleskop 1,5 Millionen Kilometer durchs All fliegt, sprengt mein Gehirn“: US-Präsident Joe Biden bei der Präsentation des Bildes, das das Webb-Teleskop erstellt hat.

„Schon der Gedanke, dass ein Teleskop 1,5 Millionen Kilometer durchs All fliegt, sprengt mein Gehirn“: US-Präsident Joe Biden bei der Präsentation des Bildes, das das Webb-Teleskop erstellt hat.

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Was sehen wir auf dem Bild? Wir sehen den Galaxienhaufen „SMACS J0723″, ein kosmisches Wimmelbild aus weißen und roten Flecken vor der nachtschwarzen Leinwand des Nichts. Es ist Sternenlicht, das Milliarden Jahre in Lichtgeschwindigkeit durch die Unendlichkeit des Alls sauste, bis es im Juni 2022 auf die Infrarotsensoren eines Teleskops traf, das die Menschen vom Planeten Erde ihm 1,5 Millionen Kilometer entgegengeschickt haben. Zum Vergleich: Von der Sonne bis zu unserer Erde ist Licht etwa achteinhalb Minuten unterwegs.

13 Milliarden Jahre altes Licht

Von seltsamer Pracht ist „Webbs“ erste Deep-Field-Aufnahme. Es ist ein galaktisches Selfie der Babyjahre des Universums. Einige der Lichtpunkte auf dem Bild waren 13 Milliarden Jahren unterwegs. Sie sind damit nur 800 Millionen Jahre jünger als der Urknall. Das Bild zeigt also nicht weniger als die frühesten Nachwehen jenes Momentes, den die christliche Bibel in der Schöpfungsgeschichte mit den Worten „Es werde Licht“ beschreibt. Es geht kaum größer.

30 Jahre nach dem Beginn des „Webb“-Projekts – an dem 20.000 Forscher, Ingenieure und Techniker beteiligt waren und das statt einer Milliarde Dollar am Ende 10 Milliarden kostete – blickt die Menschheit nun also so tief wie noch nie zuvor hinein in die Wiege des Kosmos. „Webb“ fängt mit seinen Infrarotsensoren Licht im All ein, das nur so schwach glimmt wie ein brennendes Streichholz auf dem Mond von der Erde aus. Das „Hubble“-Teleskop, sein Vorgänger, fing ultraviolette Strahlung ein. „James Webb“ dagegen sammelt infrarote Strahlen. Das neue Himmelsauge fängt dabei tausende meist sehr junger Galaxien ein, von denen jede Einzelne Ausmaße hat, die den menschlichen Verstand übersteigen.

Die Zerbrechlichkeit unseres Planeten: Der Aufgang der Erde über der Mondoberfläche, fotografiert von Apollo 8.

Die Zerbrechlichkeit unseres Planeten: Der Aufgang der Erde über der Mondoberfläche, fotografiert von Apollo 8.

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Wir sind nur Staub im Nichts

Und plötzlich werden wir wieder gewahr, dass wir Staub im Nichts sind. Dass der Himmel, der uns überwölbt, voll ist von Milliarden Galaxien wie der unseren, von Milliarden von Planeten, Monden, Himmelskörpern. Und dass die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo in der undenkbaren Unendlichkeit erdähnliches Leben möglich sein könnte, viel höher ist als die Wahrscheinlichkeit, dass das nicht der Fall ist. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten“, schrieb der Physiker und Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke: „Entweder, wir sind allein im Universum. Oder wir sind es nicht. Beides ist gleichermaßen angsteinflößend.“

Gewiss: Die Nasa neigt naturgemäß zum Pathos. Man war stets recht geschickt darin, eigene Ergebnisse als bahnbrechend zu vermarkten, schließlich muss die US-Weltraumbehörde permanent politisch um ihr Budget kämpfen. Und gewiss auch: Die drei Raumfahrtbehörden aus den USA, Europa und Kanada, die für „Webb“ kooperieren, wendeten allerhand aufwendige Verfahren an, um die infraroten Strukturen der Bilder in vertraute und spektakuläre Farbwelten zu „übersetzen“. Doch das Bild zeigt nichts, was nicht da ist. Es ist damit echt.

„Eine Million Sonnen“

„Limitless undying love / which shines around me like a million suns / it calls me on and on across the universe“, sang John Lennon 1968 in „Across the Universe“, wenige Monate, bevor Neil Armstrong den Mond betrat. „Grenzenlose, unsterbliche Liebe, die mich umstrahlt wie eine Million Sonnen, sie ruft mich immer weiter durch das Universum.“ Es ist, als würden diese „eine Millionen Sonnen“ aus Lennons Vision plötzlich sichtbar. Und mit ihnen die grenzenlose Liebe, die nicht wenige trotz allen irdischen Gezänks dann doch für den Urstoff des Universums halten.

„Ich bin wirklich hier“: Alan Bean, als Nasa-Astronaut vierter Mensch auf dem Mond, 2009 bei einer Ausstellung seiner Gemälde.

„Ich bin wirklich hier“: Alan Bean, als Nasa-Astronaut vierter Mensch auf dem Mond, 2009 bei einer Ausstellung seiner Gemälde.

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Astronaut Bean sah die kleine, zarte, blaue, verletzliche Erdkugel mit eigenen Augen durch das kolossale Nirgendwo des Alls schweben. sieben Stunden und 45 Minuten stapfte er damals durch den Mondstaub. Und als er zurückkam, war er ein anderer Mensch. Alles Irdische verlor seine Bedeutung, erschien klein und nichtig. Bean wurde Maler. Er schuf Ölbilder von Astronauten, immer wieder. Der Mond. Die Fahne. Der Wahnsinn. In leuchtenden Farben. Er baute kleine Fetzen seines Raumanzugs in seine Gemälde ein. Bean machte das, was er erlebt hatte, zu Kunst. Es war sein Weg, nicht durchzudrehen.

Über Gefühle stand nichts im Apollo-Handbuch

Die meisten anderen „Moonwalker“ fanden nie richtig zurück. Neil Armstrong schwieg. Viele wurden depressiv und alkoholsüchtig. Ein Stück ihrer Seele blieb auf dem Mond. „Nach dem Mondspaziergang ist alles andere eine Enttäuschung“, sagte Buzz Aldrin, zweiter Mann auf dem Mond. Er verfiel dem Alkohol, litt an Depressionen, ließ sich dreimal scheiden. „Auf den Mond fliegen, das kann er, aber eine Tasse Kaffee kochen, das bekommt er nicht hin“, sagte seine dritte Frau Lois. Kollege Edgar Mitchell (Apollo 14) gründete ein Institut für Ufologie, Telepathie und Kontakte zu Aliens. James Irwin (Apollo 15) fand auf dem Mond zu Gott (“Ich spürte seine Gegenwart“) und ging als Wanderprediger auf die Suche nach der Arche Noah. Charles Duke (Apollo 16) wurde zum depressiven Alkoholiker – bis auch er zum Christentum fand. Vier der zwölf „Moonwalker“ leben noch. So richtig erklären, was sie vor 50 Jahren da oben erlebt hatten, konnte keiner.

So richtig erklären, was sie vor 50 Jahren da oben erlebt hatten, konnte keiner: Die zwölf „Moonwalker“ (obere Reihe von links) Neil Armstrong, Apollo 11 – 1969; Edwin „Buzz“ Aldrin, Apollo 11 – 1969; Charles „Pete“ Conrad, Apollo 12 – 1969 und Alan L. Bean, Apollo 12 – 1969. Mittlere Reihe: Alan Shepard, Apollo 14 – 1971; Edgar D. Mitchell, Apollo 14 – 1971; David Scott, Apollo 15 – 1971 und James B. Irwin, Apollo 15 – 1971. Untere Reihe: John Young, Apollo 16 – 1972; Charles M. Duke Jr., Apollo 16 – 1972; Eugene A. Cernan, Apollo 17 – 1972 und Harrison „Jack“ Schmitt, Apollo 17 – 1972.

So richtig erklären, was sie vor 50 Jahren da oben erlebt hatten, konnte keiner: Die zwölf „Moonwalker“ (obere Reihe von links) Neil Armstrong, Apollo 11 – 1969; Edwin „Buzz“ Aldrin, Apollo 11 – 1969; Charles „Pete“ Conrad, Apollo 12 – 1969 und Alan L. Bean, Apollo 12 – 1969. Mittlere Reihe: Alan Shepard, Apollo 14 – 1971; Edgar D. Mitchell, Apollo 14 – 1971; David Scott, Apollo 15 – 1971 und James B. Irwin, Apollo 15 – 1971. Untere Reihe: John Young, Apollo 16 – 1972; Charles M. Duke Jr., Apollo 16 – 1972; Eugene A. Cernan, Apollo 17 – 1972 und Harrison „Jack“ Schmitt, Apollo 17 – 1972.

Warum das so ist, zeigen die aktuellen „Webb“-Bild in nie gekannter Deutlichkeit: Die Einsamkeit des Planeten in der endlosen, schwarzen Weite des Weltraums mit eigenen Augen zu sehen, hat die Seelen der Mondfahrer damals in Aufruhr versetzt. Sie waren auf jede technische Panne, jeden Defekt der Mondfähre, jede logistische Eventualität des Unterfangens vorbereitet. Für die Größe dessen aber, was sie erlebten, hatten sie kein Instrument der Bewältigung. Über Gefühle stand nichts im Apollo-Handbuch. „Irgendwie war ich nicht für das gerüstet, was kommen würde“, sagte Buzz Aldrin – bevor er einen „guten alten amerikanischen Nervenzusammenbruch“ erlitt. Die komplette Erde dort drüben im Fenster ihrer Mondlandefähre mit nur einem winzigen Daumennagel überdecken zu können, hat die „Moonwalker“ zutiefst verstört.

Schutzlos, winzig und verloren dreht der Planet seine Runden

Schutzlos, winzig und verloren dreht der Planet seine Runden, in der Schwebe gehalten von der Anziehungskraft der Sonne, die kaum jemand wirklich erklären kann. Und auf dem Nasa-Bild lässt sich nicht bloß die Erde mit einem Fingernagel überdecken, sondern ganze Galaxien. Das Weltall war und ist eine einzige Überforderung. Oder wie Joe Biden bei der Präsentation sagte: „Schon der Gedanke, dass ein Teleskop 1,5 Millionen Kilometer durchs All fliegt, sprengt mein Gehirn.“

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Ein Foto vom Anbeginn der Zeit? Milliarden Jahre altes Licht? Sterne, die längst tot sind, deren Licht aber noch durchs All rast? Galaxien als winzige Lichtpunkte? Es ist beim Blick auf das Bild wie bei verschreckten Kaninchen, die man aus dem engen Stall genommen und auf die freie Wiese gesetzt hat: Grenzenlosigkeit verunsichert. Lebewesen mögen es, ihren Platz in der Welt zu kennen. Unendlichkeit dagegen ist ein Konzept, bei dem der Verstand Normalsterblicher nicht mitgeht.

Das erschreckende Ausmaß unserer Ahnungslosigkeit

Der Mathematiker Blaise Pascal beschrieb das Weltall im 17. Jahrhundert als einen „Kreis, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umfang nirgends ist“. Ohne Gott, befand er, sei der Mensch verloren zwischen dem unendlich Großen und dem unendlich Kleinen. Mathematisch ist von „Unendlichkeit“ die Rede, wenn etwas größer ist als jede Zahl, die existiert. Das Problem: Zu jeder Zahl lässt sich immer die eins dazuzählen (oder jede andere Zahl). Ähnlich ist es räumlich im All. Hinter jeder denkbaren Unendlichkeit lauert also immer eine neue. Dass dieses Weltall, das uns alle umschließt, tatsächlich nirgendwo enden soll, dass der dreidimensionale Raum und die eindimensionale Zeit sich zudem verschränken zu einer vierdimensionalen Struktur im Sinne der Relativitätstheorie – das übersteigt das Abstraktionsvermögen praktisch aller Menschen.

„Webb“ blickt tief hinein in den Weltraum und erhascht aus dem Nichts Spuren der Unendlichkeit. Die Natur aber offenbart ihre Geheimnisse nur in winzigen Dosen. Vermutlich werden wir niemals wissen, wie viel‘ Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt. Denn das ist eben das Wesen der Weltraumforschung: Wir blicken hinaus ins Schwarze durch immer gewaltigere Teleskope mit immer präziseren Sensoren – aber alles, was wir dort entdecken, sind bloß neue Erkenntnisse über das Ausmaß unserer Ahnungslosigkeit.

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