„Menschen können häufig nicht mit der Trauer umgehen“
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Menschen aus der Ukraine warten nach ihrer Ankunft mit einem Zug aus Polen am Berliner Hauptbahnhof. Auch in Göttingen sind inzwischen die ersten Geflüchteten eingetroffen.
© Quelle: Carsten Koall/dpa
Frau Auer, in Deutschland ist mit Ausbruch des Krieges in der Ukraine eine Welle der Hilfsbereitschaft ins Rollen gekommen. Die Menschen sind betroffen, haben Mitleid – und irgendwie möchte man das zeigen. Aber ist das überhaupt richtig?
Mitleid und Betroffenheit sind zwei Emotionen, die mir in meinem Arbeitskontext häufig begegnen, aber ich versuche mein Handeln davon nicht bestimmen zu lassen. Ein natürlicher Umgang, so wie ich auch deutschen Menschen begegne, ist für mich das Gebot der Stunde.
Das heißt nicht, dass es in Situationen, in denen Menschen weinen, kein Mitgefühl geben darf. Natürlich ist das dann wichtig. Aber es ist schwierig, wenn die Personen aufgrund ihrer Fluchtgeschichte stigmatisiert werden und ihnen ungefragt Mitleid begegnet. Sie sind ja nicht nur Flüchtlinge, sondern darüber hinaus noch viel mehr – individuelle Persönlichkeiten.
Viele der in Deutschland ankommenden Menschen können weder Deutsch noch Englisch. Wie überwindet man diese Hürde, und kann man den Leuten damit auch ein Gefühl von Sicherheit geben?
Ich habe eine Zeit lang in der sozialen Arbeit gearbeitet. Wie oft ich da mit Menschen, die unserer Sprache nicht mächtig waren, am PC saß und wir gegenseitig unsere Sätze eintippten. Einfach die Werkzeuge nutzen, die uns die heutige Zeit bietet: verschiedene Übersetzungsprogramme, Apps auf dem Handy. Empfehlen kann ich außerdem die Piktogrammbücher, also Bücher mit Symbolen und Bildchen. Sie an die Menschen, die hier ankommen, auszuteilen, kann sehr hilfreich sein, gerade um erste Fragen zu beantworten.
Sollte man Menschen gezielt ansprechen?
Ich würde Menschen, nur weil sie vermeintlich ukrainisch sprechen, nicht einfach ansprechen. Man sollte sein Kontaktverhalten nicht ändern, sondern ihnen genau so begegnen, wie man auch anderen Menschen in seinem Umfeld begegnet.
Als Beispiel: Wenn in meinem Haus Leute aus der Ukraine untergebracht werden, dann brauch ich nicht dorthin gehen und klingeln, wenn ich sonst auch keinen Kontakt zu meinen Nachbarn habe. Sind wir eine aktive Gemeinschaft, sollten wir aber natürlich mal klingeln. Auch ein Lächeln und eine Begrüßung bei Begegnungen im Hausflur können erste Kontakte sein und Offenheit zeigen.
Wenn ich nun selbst jemanden bei mir aufgenommen habe, wie gehe ich dann mit demjenigen um? Sollte man sich gezielt Zeit für die Personen nehmen, sie in den eigenen Alltag integrieren, ihnen Aufgaben geben?
Wichtig ist es, mit den Leuten genau darüber ins Gespräch zu kommen. Fragen Sie: Wie stellst du dir das Zusammenleben vor? Denn so unterschiedlich wie die Menschen sind, so unterschiedlich sind auch ihre Bedürfnisse. Manche wollen sich zum Beispiel schnell ein Leben aufbauen, sich integrieren, eine eigene Wohnung und rasch eine Arbeit finden, für die Kinder Schul- und Kitaplätze. Der Zeitaufwand steht und fällt mit der Person, die sie aufnehmen und damit, wie viel Hilfe diese Person möchte.
Vielleicht sollte man im Vorfeld mit dem eigenen Arbeitgeber darüber sprechen, dass man Geflüchtete auf Zeit beherbergen möchte. Eventuell ist der Chef dann so kulant zu sagen, okay, in dieser Zeit gucken wir nicht so genau auf die Arbeitszeiten. Zusätzlich kann man fragen, ob es möglich ist, kurzfristig Urlaub zu nehmen, wenn man merkt, die aufgenommenen Menschen brauchen und wollen mehr Betreuung oder Begleitung im Alltag.
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Stefanie Auer ist Referentin für Migration und Integration der Caritas, dem Wohlfahrtsverband der katholischen Kirche.
© Quelle: Caritasverband
Wie kann denn die Betreuung im Alltag aussehen?
Gut ist, die Schritte der Integration zu begleiten. Wenn klar ist, die Menschen wollen nicht nur im Rahmen ihres Touristenvisums bleiben, sondern wollen den Aufenthaltstitel, dann steht die Registrierung bei der Ausländerbehörde an, die Klärung des Leistungsbezugs. Im Anschluss kann man helfen, einen eigenen Wohnraum zu finden, Arbeit, Kita- und Schulplätze. Innerhalb der deutschen Strukturen und Formularen zu unterstützen, ist ganz wichtig.
Und in Sachen Freizeit?
Wenn man selbst Hobbys hat, kann man fragen, ob sie Lust haben mitzukommen, beispielsweise zum Sport. Oder haben sie vielleicht Lust, einfach gemeinsam spazieren zu gehen? Man kann durchaus Angebote machen, sollte aber nicht enttäuscht sein, wenn diese abgelehnt werden.
Zusätzlich kann man sich über spezielle Angebote schlaumachen. In fast jeder Region werden Ukraine-Treffs organisiert, Kirchgemeinden richten gemeinsame Abendessen aus, Sportvereine bieten Kurse für ukrainische Kinder an – da gibt es ganz viel. Also Augen und Ohren offen halten, wo es Freizeitangebote gibt, die sie mit Menschen aus ihrem Heimatland zusammenbringen.
Was ist, wenn man merkt, die Menschen sind so traumatisiert, dass sie professionelle Unterstützung brauchen? Wohin wende ich mich dann?
Es gibt Psychosoziale Zentren für Geflüchtete sowie Migrantinnen und Migranten. Das sind aber leider Strukturen, die oft sehr lange Wartezeiten mit sich bringen. Hier sind wir momentan noch in der Findungsphase, wie die Versorgung der jetzt ankommenden Menschen gut funktionieren kann.
Mein Tipp ist, sich immer an die lokalen Migrationsberatungen für erwachsene Zuwanderer (MBE) zu wenden. Die haben gerade vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Zielgruppenerweiterung für Menschen aus der Ukraine erhalten. Dort können Gespräche zu ganz unterschiedlichen Themen geführt werden. Die Mitarbeiter vor Ort sind in den entsprechenden Netzwerken aktiv und verweisen dann auf die Kolleginnen und Kollegen in den anderen Beratungsdiensten.
Sollte man das Thema Krieg prinzipiell vermeiden?
Ich würde die Leute nicht konkret drauf ansprechen, nach dem Motto, nun erzähl doch mal, wie war das so. Ich würde das Thema aber auch nicht gezielt vermeiden und zum Beispiel trotzdem weiterhin Tagesschau gucken. Hier sind wir wieder bei dem Punkt, einen ganz normalen Umgang zu pflegen, sich nicht zu verstellen. Einigen hilft es, darüber zu sprechen, andere möchten sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Ein Gesprächsangebot kann durchaus gemacht werden, doch ist auch an dieser Stelle wichtig, sich der Frage zu stellen: Kann ich das leisten, kann ich das auffangen und mit den eventuellen Gefühlen umgehen?
Kann man denn grundlegende Fehler machen, wenn man eine geflüchtete Person aufnimmt?
Die private Unterbringung ist ein ganz wichtiges Thema, und die Hilfsbereitschaft berührt uns alle. Bevor man diese Entscheidung trifft, muss man für sich aber klare Regeln festlegen. Wir erleben häufig, dass Leute die Menschen in der ersten Euphorie aufgenommen haben, dann im Alltag nicht mit der Trauer umgehen können und vielleicht nach zwei, drei Tagen sagen, das ist mir zu viel. Das ist völlig legitim.
Wie kann man das vermeiden?
Dazu sollte man vor der Aufnahme einer Familie einige Dinge abklopfen: Trau’ ich mir das überhaupt zu? Hab’ ich gerne Besuch? Möchte ich abends Leute bei mir sitzen haben, mit denen ich mich nicht verständigen kann, die vielleicht auch gar nicht reden möchten? Wenn Sie eine dieser Fragen verneinen, sollten Sie sich gegen eine Unterbringung entscheiden.
Also: Kurz innehalten und sich einmal der Konsequenzen bewusst werden. Es hilft niemandem, wenn man selbst mit der Situation überfordert ist. Und das fängt schon mit den Finanzen an, wenn es plötzlich um einen Großeinkauf geht. Legen Sie auch für sich und ihr Gegenüber eine Zeitschiene fest, wie lange die Person oder Familie bleibt.
So eine Unterbringung kann auch für alle absolut bereichernd sein. Manchmal reicht es schon aus, nur ein, zwei Nächte eine Unterkunft zu bieten – zum Ankommen, Duschen, einmal Ausschlafen, ehe es dann eben weiter in die Not- oder Erstaufnahmeeinrichtung geht.