Permafrost, Eis, Regenwald: Welche Folgen es hat, wenn diese Klimakipppunkte erreicht sind
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Kipppunkte beschleunigen den Klimawandel – aber auch den Klimaschutz.
© Quelle: imago/blickwinkel/Vinicius Mendonca/Ibama/dpa/ Torsten Sachs/Alfred-Wegener-Institut/dpa/Alejandro Granadillo/AP/dpa
Berlin/Exeter. Bereits gut ein Grad Erderwärmung im Vergleich zur vorindustriellen Zeit führt zu Hitzerekorden, verstärkten Dürren und Ernteausfällen. Ab 1,5 Grad treten wahrscheinlich zusätzlich bestimmte Klimakipppunkte ein: Dann könnte – auch ohne weitere Temperaturerhöhung – etwa das Grönlandeis unweigerlich abschmelzen oder die Warmwasser-Korallenriffe weitgehend absterben und damit die Kinderstube vieler Fische, schreibt ein Team um Timothy Lenton und David Armstrong McKay von der britischen Universität Exeter im Journal „Science“.
Doch auch beim Klimaschutz sind Kipppunkte in Sicht, wie eine Konferenz ebenfalls in Exeter aufzeigte – etwa bei der Verbreitung erneuerbarer Energien oder den E-Autos. Ab einem Kipppunkt läuft ein Prozess ohne äußere Einwirkung selbstständig weiter.
Kipppunkt: Amazonaswald
Besonders dramatisch ist die Lage im Amazonasgebiet – durch die Kombination von Klimawandel und Abholzung. Lange zog der Amazonaswald Kohlendioxid (CO₂) aus der Atmosphäre. Doch in der Zeit von 2010 bis 2018 setzte er mehr frei, als er aufnahm, wie ein Team um Luciana Gatti vom brasilianischen Nationalen Institut für Weltraumforschung (Inpe) ermittelt hat. Gründe seien die Waldvernichtung und die stärker ausgeprägte Trockenzeit.
Das Waldgebiet erholt sich zudem immer schlechter von Dürren oder Bränden. Seit Anfang der 2000er-Jahre habe es eine geringere Widerstandsfähigkeit, schrieb kürzlich ein Team um Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Es sei nicht klar, wann genau ein Übergang zur Savanne stattfinden könne, sagt Boers. „Wenn er dann zu beobachten ist, wäre es wahrscheinlich zu spät, ihn aufzuhalten.“ Der größte Regenwald der Erde habe globale Bedeutung: Er beherbergt eine einzigartige Artenvielfalt, beeinflusst die Niederschläge in ganz Südamerika, und seine Vernichtung setzt Treibhausgase frei, die wiederum zur Erderwärmung beitragen.
Ohne den Einfluss der Zerstörung erreicht der Wald laut der Studie von Armstrong McKay wahrscheinlich bei rund 3,5 Grad Erderwärmung einen Kipppunkt, möglicherweise jedoch schon bei 2,0 Grad. Anderen Studien zufolge könnte der Kipppunkt bei einem Verlust von 20 bis 40 Prozent der Walddecke im Amazonasbecken eintreten. Bis 2019 waren etwa 17 Prozent des Waldes zerstört, in Brasilien sogar rund 20 Prozent, wie Forschende in „Science Advances“ berichteten. Zu den Hauptgründen zählt die Abholzung etwa für Viehweiden und den Anbau von Futter für Schweine und Kühe.
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© Quelle: Johannes Christ/RND
Kipppunkt: Grönlandschild und andere Eisflächen
Erstmals seit Aufzeichnungsbeginn hat es 2021 am Gipfel des Grönländischen Eisschildes geregnet. Gewöhnlich schneit es dort in einer Höhe von über 3000 Metern. Das Grönlandeis schmilzt immer schneller und die Eisschmelze verstärkt sich bereits jetzt an einigen Orten. Schmelzwasserseen reflektieren weniger Sonnenstrahlen als Eis oder Schnee, sodass sich die Oberfläche stärker erwärmt.
Auch wenn wir ab sofort keine Treibhausgase mehr produzieren würden, lasse allein das Schmelzen des Grönlandeises bis Ende des Jahrhunderts den Meeresspiegel um mindestens 27 Zentimeter, wahrscheinlich aber um mehr als einen halben Meter steigen, berechnete Jason Box vom Geological Survey of Denmark and Greenland in Kopenhagen.
Das Team um Armstrong McKay geht in „Science“ von einem Kipppunkt des Abschmelzens bei etwa 1,5 Grad Erwärmung aus – allerdings gibt es eine weite Spanne von 0,8 bis 3 Grad an. Falls das Eis komplett schmelzen sollte, könne allein das den Meeresspiegel um rund sieben Meter steigen lassen, das würde je nach Erwärmung 1000 bis 15.000 Jahre dauern.
Auch nach Auffassung von Christoph Schneider von der Humboldt-Universität Berlin dürfte der Kipppunkt für das fast vollständige Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes entweder schon erreicht sein oder „ziemlich absehbar im Laufe des 21. Jahrhunderts“ überschritten werden.
Fest steht, dass sich die Eisschmelze weltweit beschleunigt. Während in den 1990er-Jahren pro Jahr im Schnitt rund 0,8 Billionen Tonnen Eis verschwanden, waren es 1994 bis 2017 bereits 1,2 Billionen Tonnen pro Jahr, wie ein Team um Thomas Slater von der Universität Leeds ermittelte.
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Klima-Check
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Kipppunkt: Golfstromsystem
Das Golfstromsystem transportiert Wärme quer über den Atlantik und spielt somit eine große Rolle für das milde Klima in Nordeuropa. Es sei noch nie in über 1000 Jahren so schwach gewesen wie in den letzten Jahrzehnten, schrieb ein Team um PIK-Forscher Stefan Rahmstorf 2021. Dabei sei die Abschwächung im 20. Jahrhundert beispiellos gewesen, was „wahrscheinlich eine Folge des vom Menschen verursachten Klimawandels“ sei. Das Team hatte unter anderem Daten aus Tiefseesedimenten ausgewertet.
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Was passiert, wenn der Golfstrom immer schwächer wird?
Das Golfstromsystem ist schon jetzt so schwach wie seit mindestens einem Jahrtausend nicht mehr. Ob der Klimawandel die Strömung abgeschwächt hat, können Forschende nicht genau sagen. Doch was sie wissen: Künftig wird er dabei eine Rolle spielen – mit erheblichen Folgen für unser Klima.
Der Weltklimarat (IPCC) hält in seinem Sonderbericht Ozeane und Eis fest: Es sei sehr wahrscheinlich, dass sich das Golfstromsystem in diesem Jahrhundert abschwäche, aber sehr unwahrscheinlich, dass es bereits zusammenbreche. Doch schon eine starke Schwächung des Golfstroms könne die Fischmenge im Nordatlantik stark mindern, zu mehr Stürmen in Nordeuropa und weniger Hurrikans im Atlantik führen. Es könne im Sommer weniger Regen in der Sahelzone und in Südostasien geben. Dies alles geschehe zusätzlich zu den anderen Folgen des Klimawandels. Den Kipppunkt sieht das Team um Armstrong McKay hier bei 4,0 Grad (Spanne 1,4 – 8 Grad) Erwärmung.
Kipppunkt: Permafrost
Eine Gefahr für das Klima sehen Forschende auch im Auftauen der dauerhaft gefrorenen Böden etwa in großen Regionen Russlands und Nordamerikas. Durch die Einlagerung von Tier- und Pflanzenresten enthalten diese Kühltruhen der Erde je nach Angaben bis doppelt so viel Kohlenstoff wie die Atmosphäre. Beim Tauen wird er zwar nicht komplett in Treibhausgase umgewandelt. Ein Teil entweicht jedoch als besonders klimawirksames Methan (CH₄). Schon jetzt setze der Permafrost pro Jahr Treibhausgase in einem Umfang frei, der nahezu den jährlichen Emissionen von Deutschland entspreche, sagt Jens Strauss vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Potsdam. Tendenz steigend.
Zudem sind nicht nur Permafrostböden vom Klimawandel bedroht, sondern auch Wälder in Nordamerika und Asien. Die Erwärmung der Arktis verstärke Waldbrände, schrieb Susan Natali vom Woodwell Climate Research Center in Falmouth (USA) 2021. Der dabei freigelegte Boden taue tiefer auf. Dies und die Brände selbst könnten große Mengen Kohlenstoff freisetzen und somit das Ziel gefährden, die Erderwärmung auf unter 2 Grad zu begrenzen. Die Wirkung der Brände müsse beim Berechnen des international nötigen Klimaschutzes berücksichtigt werden.
In eisreichen Gebieten der nördlichen Permafrost-Regionen werden laut Strauss bereits jetzt abrupte Tauprozesse deutlich häufiger: Dabei komme es unter anderem zur Entstehung von Seen und Hangrutschen. Da das Seewasser Wärme gut speichert, taut es die Umgebung weiter auf und es werden mehr Treibhausgase frei als beim allmählichen Auftauen. Diese Seenbildung geschieht synchron auf einer großen Fläche. Der Kipppunkt für dieses Phänomen liegt laut Armstrong McKay bei 1,5 Grad (Spanne 1 – 2,3 Grad). Beim Tauen von tieferem Permafrost liege er bei 3 bis 6 Grad Celsius.
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Soziale Kipppunkte: zwischen Alarm und Hoffnung
Derzeit steuere die Welt auf eine globale Erwärmung von 2 bis 3 Grad zu, mahnen die Forscherinnen und Forscher um Armstrong McKay. Sie definierten 16 Klimakipppunkte, von denen sechs wahrscheinlich bereits bei unter 2 Grad Erwärmung eintreten, fünf davon möglicherweise sogar schon bei der aktuellen Erwärmung. Kippelemente könnten sich zudem gegenseitig verstärken.
Daher sei es nötig, positive soziale Kipppunkte zu finden und auszulösen, die den Übergang zu einer Zukunft mit grünen Energien radikal beschleunigen, sagte Timothy Lenton von der Uni Exeter auf einer Konferenz zu Klima- und sozialen Kipppunkten seiner Hochschule Mitte September. In einigen Bereichen und in einigen Ländern habe es bereits positive Wendepunkte gegeben, schreibt die Universität mit Blick auf Neuzulassungen von E-Autos oder auf Erzeugerpreise bei Wind- und Solarenergie.
„Die Verringerung der Kosten von erneuerbaren Energien und deren Verbreitung ging schneller als noch vor Jahren gedacht“, sagte die Sozialwissenschaftlerin Ilona Otto von der Universität Graz. „Man kann nicht genau sagen, wann ein weltweiter Kipppunkt erreicht ist, aber ich denke, wir sind hier sehr nah dran, vielleicht haben wir ihn schon erreicht.“
Hoffnung hat sie auch beim Ändern sozialer Normen. „Besonders die jungen Menschen, die denken ganz anders, die wollen nicht mehr für bestimmte Banken oder bei fossilen Unternehmen arbeiten.“ Viele wollten von sich aus mehr von der Umwelt erfahren. Zu einer Wende in der Bildung gehören für Otto zwei Bereiche: „Es ist wichtig, die Schüler zu lehren, wie abhängig wir von der Umwelt sind, aber auch, wie man Gegenstände repariert oder – bei Älteren – wie man Solarpanele anschraubt.“
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Warum jetzt die richtige Zeit für Klimahoffnung sein könnte
Die aktuellen Krisen könnten endlich die Wende im Kampf gegen den Klimawandel bringen. Ist also Hoffnung angebracht? Oder ist das nur ein weiterer psychologischer Kniff, mit dem wir einer unausweichlichen Katastrophe ihren Schrecken nehmen wollen?
Treten die sozialen Kipppunkte schnell genug ein?
Werden solche sozialen Kipppunkte rasch genug eintreten? „Das ist meine Hoffnung. Alles ändert sich sehr schnell“, sagt Otto. Aber die Wende werde nicht von selbst geschehen. „Wir alle müssen etwas ändern“ – daheim oder beim Arbeitgeber. Die Uni Graz analysiere gerade den Ausstoß ihrer Treibhausgase und diskutiere, ob Forscherinnen und Forscher weniger fliegen sollten, sagte Otto, die online an der Konferenz in Exeter teilgenommen hatte. Städte könnten etwa dem Netzwerk Carbon Neutral Cities Alliance (CNCA) beitreten. Die ehrgeizigste Stadt darin, Kopenhagen, wollte bis 2025 klimaneutral sein, gestand aber gerade erst ein, es bis dahin nicht zu schaffen. Das generelle Ziel wird weiter verfolgt.
Natürlich gebe es immer Menschen, die nicht mitmachten. „Man sollte sich auf die konzentrieren, die etwas machen wollen.“ Minderheiten könnten das Handeln von Mehrheiten verändern, sagt Otto.
In Exeter wurde eine Initiative aus Forschenden und Unternehmen gegründet, die positive Kipppunkte finden und aktivieren soll. Das Projekt soll auch einen umfassenden Bericht über positive und negative Kipppunkte erstellen. „Positive Kipppunkte in sozioökonomischen Systemen müssen gefunden und ausgelöst werden, um … das Risiko von äußerst schädlichen Kipppunkten im Klimasystem einzuschränken“, betonte Lenton.
RND/dpa