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Gastbeitrag zweier Zukunftsforscher

Plädoyer für Perspektivwechsel: von morgen auf den Klimawandel blicken

Wohin die Reise geht, ist klar: Wir müssen uns von fossiler Energie, wie sie hier im Kohlekraftwerk Mehrum erzeugt wird, verabschieden.

Wohin die Reise geht, ist klar: Wir müssen uns von fossiler Energie, wie sie hier im Kohlekraftwerk Mehrum erzeugt wird, verabschieden.

Hannover. Eigentlich wissen wir alle, wohin die Reise geht. Wir stehen als Menschheit, Gesellschaft, Individuen, ja als ganze planetare Zivilisation vor der Aufgabe eines großen Wandels in unseren Produktions- und Energiesystemen. Es gibt klare gesellschaftliche Mehrheiten für das große Wandlungsprojekt unserer Tage: den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern, die Dekarbonisierung. Wir müssen uns als technische Zivilisation neu erfinden.

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Menschen haben solche Wandlungsprozesse im Verlauf ihrer langen Geschichte schon öfter vollbracht. Warum machen wir es uns dabei so schwer? Wir verschwenden unsere geistige, emotionale und kreative Energie in sinnlosem Streit.

Die Klimakrise wird zum Kulturkrieg. Knapp 60 Prozent der Deutschen glauben, dass die postfossile Wende zwar wünschenswert, aber unmöglich ist. Der Wandel zu einem neuen Energie- und Produktionssystem wird aber nicht deshalb für unmöglich gehalten, weil er an sich nicht möglich wäre, sondern weil wir uns über den Weg ständig zerstreiten.

Und plötzlich wird es möglich

Das Grundübel ist, dass die Klimadebatte ausschließlich unter der Devise des Verlustes geführt wird. Es geht darum, was man nicht mehr darf, was nicht mehr gehen soll, was wir verlieren könnten und vor allem: wer schuld daran sein muss.

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Diese Selbstverzwergung erzeugt eine bösartige Panik, die in Leugnung und Denunziation umschlägt. Verhandelt werden nur Ideologien, die mit der Frage des notwendigen und sinnvollen Wandels im Grunde nichts zu tun haben. Auf diese Weise stirbt die Zukunft. Menschen brauchen aber eine positive Vorstellung von Zukunft, um sich verändern zu können.

Wie können wir die Zukunft wieder herstellen? Dazu ein Gedankenexperiment, eine geistige Technik, mit der wir als Zukunftsforscher gute Erfahrungen gemacht haben: die „Re-Gnose“. In der klassischen Prognose berechnen wir die Zukunft aus der Vergangenheit heraus.

Im Falle des Klimawandels hat das fatale Folgen. Wir messen das Postfossile mit dem Fossilen. Professorinnen und Experten rechnen uns immer wieder vor: Es reicht nicht. Es kann niemals reichen. Durch diese Denkweise wird das Problem, das nicht gelöst werden kann, weil es mit den Maßstäben der Vergangenheit gemessen wird, zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

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Die Re-Gnose blickt aus der Zukunft auf die Gegenwart. Die Annahme: Im Jahr 2050, dem Jahr des „Zero Carbon“, das sich die Weltgemeinschaft in den Pariser Verträgen zum Ziel gesetzt hat, hat es die menschliche Kultur geschafft, ihre Systeme, Technologien, auch ihre Verhaltensweisen, so zu verändern, dass Kohlenwasserstoffe weitgehend überflüssig werden. Das Unvorstellbare wird Wirklichkeit. Auf diese Weise entsteht ein Wow-Effekt, ein Staunen. Wie konnte das möglich sein? Und plötzlich wird es möglich!

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Auf den ersten Blick wirkt das wie ein billiger Trick. Dem Psychologen und Philosophen Paul Watzlawick („Anleitung zum Unglücklichsein“) verdanken wir die Erkenntnis, dass man echte Probleme nicht auf derselben Ebene lösen kann, auf der sie entstanden sind. Wenn man immer nur mehr von den alten Mitteln und Methoden einsetzt, wird das Ergebnis immer schlechter.

Das Denken aus der Zukunft „beamt“ uns auf eine andere Ebene, in der wir den Wandel in einem anderen Rahmen sehen können. Erst aus der zeitlichen und mentalen Distanz kommt es zu einem „Re-Framing“, durch das das Problem lösbar wird.

Plädiert für einen Perspektivwechsel: Zukunftsforscher Daniel Dettling.

Plädiert für einen Perspektivwechsel: Zukunftsforscher Daniel Dettling.

Entscheidend ist die Umdrehung der Perspektive. Wir fragen nicht mehr wie im klassischen Prognosestil: „Was bringt uns die Zukunft?“, sondern: „Was erwartet die Zukunft von uns?“ Aus der Negativitätstrance kommen wir in eine proaktive Haltung.

Was ist für eine „Zero Carbon“-Welt nötig gewesen? Welche Technologien haben sich (weiter)entwickelt? Wie hängen einzelne Faktoren, von der Stadtentwicklung bis zur Materialtechnik, von der Energieproduktion bis zu den Speicherungstechniken, voneinander ab? Wie hängt das alles mit Verhaltensveränderungen zusammen, zu denen Menschen nicht gezwungen, sondern motiviert wurden?

Die Knappheit der erneuerbaren Energie stellt sich im Jahr 2050 als negative Illusion heraus. Wasserstoff wird eine wichtige Rolle spielen. Die Zukunft des Energiesystems besteht aus „Hydricity“, einer Kombination von Wasserstoff und allgegenwärtiger Elektrizität. Die Sonne bringt uns jeden Tag etwa eine Million Mal mehr Energie auf die Erde, als wir jemals verbrauchen können.

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Um die heutige Stromproduktion der Erde mit den heutigen Solartechnologien zu erzeugen, benötigten wir lediglich ein Quadrat von 300 Meter Kantenlänge. Auch Wind und Wasser erzeugen bis 2050 enorme Mengen an Energie. In den großen Städten sorgen unterirdische Wasserkühlsysteme für saubere und kühle Luft für Gebäude.

Der neue Standard sind Aktivhäuser, die mehr Energie produzieren als verbrauchen. Straßen und Autobahnen produzieren und speichern Energie, sodass der Verkehr direkt und effizient elektrifizierbar wird. Die Landwirtschaft wird auch dank digitaler Lösungen nachhaltig.

Aus Kohlenstoffdioxid wird Proteinpulver als Fleischalternative hergestellt. Die Massenpflanzen- ersetzt die Massentierhaltung. Ein Verbot von nicht recycelbaren Verpackungen hat zu einer vollständigen Kreislaufwirtschaft geführt. 2050 leben wir in einer Welt ohne Müll und Konsumverzicht.

Zukunftsforscher Matthias Horx bedauert, dass es bei der Klimadiskussionen vor allem um Verlust geht.

Zukunftsforscher Matthias Horx bedauert, dass es bei der Klimadiskussion vor allem um Verlust geht.

All diese Entwicklungen sind zum Teil heute schon sichtbar. Sie wahrzunehmen heißt, die Verklemmung der Klimadebatte zu überwinden. Was es braucht, ist ein Paradigmenwechsel: Weg vom Denken in Entweder-Oder und seiner Spaltungsdynamik hin zum Sowohl-als-auch.

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Natürlich brauchen wir Technologien für den bevorstehenden Wandel und Innovationen in allen Bereichen. Vielleicht wird dabei eine neue Form von Nukleartechnik auftauchen, die anders funktioniert als die alte, die wir derzeit nicht ohne Grund verschrotten.

Wir brauchen Technologiepfad-Offenheit. Und es braucht neue „Soziotechniken“ – Formen der kon­struktiven Kooperation. An einigen Stellen brauchen wir auch intelligenten Verzicht, der nicht als Verlust empfunden wird. Wenn wir weniger Fleisch essen, steigt der Genuss. Wer weniger exzessiv reist, erkennt die Landschaft wieder, in der er unterwegs ist.

Begrenzungen sind nicht nur sinnvoll, sie sind auch in vielen Bereichen unseres Lebens nützlich und selbstverständlich. In der Demokratie verzichten wir auf Bürgerkrieg und Lynchjustiz. An der Ampel verzichten wir bei Rot auf das Fahren. Das macht anderes möglich. Dinge und Handlungen zu vermeiden, die uns und anderen schaden, ist wesentlicher Teil des Zivilisationsprozesses und Verhandlungsgrundlage von Kultur.

Unsere Gastautoren

Matthias Horx und Daniel Dettling sind Zukunftsforscher. Dettling leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts. Der Text enthält Auszüge aus der Institutsstudie „Die Klima-Regnose. Wie uns die Klimawende gelingen kann“.

Die Grunderwartung des fossilen Zeitalters war das ständige Mehr. Mehr von allem. Mehr Wachstum. Mehr Konsum, mehr Geschwindigkeit. Das hat uns in einen nervösen, angstvollen Überdruss geführt. In Zukunft geht es nicht mehr um das Mehr, sondern um das Bessere. Wäre das nicht eine schöne Idee, auf die wir uns alle, jeder auf seine Weise, einigen könnten?

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