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Beethoven und die Tempi – hat der Komponist sein Metronom falsch interpretiert?

"Seid umschlungen, Millionen" ist in Berlin auf einem Faksimile der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven zu lesen.

"Seid umschlungen, Millionen" ist in Berlin auf einem Faksimile der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven zu lesen.

Hannover/Madrid/Bonn. Was hindert ein Genie daran, sich auch mal dumm anzustellen? Eigentlich nichts. Auftritt Ludwig van Beethoven, der Komponist, der als einer der ersten das damals neue Metronom und damit genaue Tempoangaben nutzte – nur stürzte das seine Interpreten und die Nachwelt in völlige Verwirrung.

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Denn die Folge waren fast irrwitzig schnelle Tempi, an denen sich Musiker und Dirigenten seit 200 Jahren die Zähne ausbeißen. Einer neuen, im Fachmagazin „Plos One“ veröffentlichten Untersuchung zufolge könnte der Komponist aber möglicherweise sein Metronom schlicht falsch abgelesen haben. Geht damit der Ehrgeiz vieler Dirigenten, sich den Vorgaben Beethovens zumindest anzunähern, in die Irre?

Nur Richtwerte, keine absoluten

Das Metronom gebe Richtwerte vor, keine absoluten Werte, mahnte Christine Siegert, Leiterin des Beethoven-Archivs und des Verlags Beethoven-Haus in Bonn. Und: Beethoven habe das Metronom nicht besonders gemocht. Ein Metronom ist ein früher mechanisches, heute elektronisches Gerät, das mit Klickgeräuschen und Zeigerbewegungen Musikern ein konstantes Tempo vorgibt.

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Viel ist gerätselt, geschrieben, gestritten worden über Beethovens (1770–1828) Metronom-Zahlen, die die Schläge pro Minute angeben und damit das Tempo, in dem er seine Sinfonien gespielt wissen wollte. Utopie, Idealvorstellung seien seine Angaben gewesen, hieß es oft – ohnehin sei er taub gewesen. Oder sein Metronom zeigte falsch an, zu langsam – auch das sind Erklärversuche. Aber ist es so einfach?

Tatsache ist: Das Metronom, entwickelt 1815 von Johann Nepomuk Mälzel, ermöglichte erstmals genaue Tempoangaben. Das war ein Umbruch – und es ist gut denkbar, dass nicht jeder gleich sicher mit der Neuheit umgehen konnte. Beethoven ergänzte die Metronomwerte in seinen bereits veröffentlichten ersten acht Sinfonien. Für eine spanische Studie wurde nun ein mathematisches Modell entwickelt, das mittels Fotos und Patent dem Metronom Beethovens nahe kommen sollte. Außerdem analysierten die Forscher die Tempi in 36 Gesamtaufnahmen der Sinfonien Beethovens, geleitet von 36 verschiedenen Dirigenten.

Unter dem Gewicht am Zeiger des Metronoms statt darüber

Das Ergebnis: „Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass Dirigenten dazu neigen, langsamer zu spielen als von Beethoven angegeben. Selbst die, deren Ziel es ist, seinen Vorgaben punktgenau zu folgen“, sagte Iñaki Ucar, einer der Studienautoren. Die Abweichung sei nicht zufällig, sondern die Dirigenten gäben das Tempo konsequent langsamer als vorgeschrieben vor. Eine Erklärung könne sein, dass der Komponist sein Metronom falsch abgelesen habe, nämlich unter dem Gewicht am Zeiger des Metronoms statt darüber, sagte die andere Studienautorin Almudena Martin-Castro.

Denn: Die durchschnittliche Abweichung zwischen vorgegebenem Tempo und gewählten Tempo entspricht nach Angaben der Forscher der Größe des Gewichts am Zeiger des Metronoms - soll heißen: dem Unterschied, ob oberhalb des Gewichts abgelesen wurde oder darunter.

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12 Schläge schneller als von ihm geplant

Auch wiesen sie auf eine Anmerkung des Komponisten auf der ersten Seite des Manuskripts der Neunten hin; dort schrieb Beethoven: „108 oder 120 Mälzel“. Dies deute darauf hin, dass der Komponist unsicher war, wie er das Metronom ablesen sollte. Denn die Gewichte der frühen Metronome seien dreieckig geformt gewesen, und die Spitze wies nach unten. Dies könne dazu geführt haben, dass der Komponist irrtümlich unterhalb des Gewichts abgelesen habe. In diesem Fall wären Beethovens Angaben 12 Schläge schneller als von ihm geplant. Das sei auch ungefähr der Unterschied zwischen Beethovens Werten und den Aufnahmen eher romantisch beeinflusster Dirigenten.

Tatsächlich sei damals in einer englischen Zeitung eine Gebrauchsanweisung für das Metronom veröffentlicht worden, sagte Siegert. Das zeige, dass es das Bedürfnis nach Erklärung gab. Die Deutung der Spanier könne sie nicht ausschließen, es sei ein „interessanter Erklärungsansatz“. Viele erwarteten, über das Tempo Beethoven näher kommen zu können – nur seien die Angaben Beethovens in sich nicht konsistent. Was dann wieder mit seiner Unsicherheit im Umgang mit dem Gerät zu tun haben könnte, schlussfolgerten die spanischen Forscher.

In Räumen mit viel Hall deutlich langsamer spielen

Beethoven habe beklagt, frühere Tempoangaben wie Allegro oder Andante reichten nicht mehr, die Selbstverständlichkeit im Umgang damit drohte aus seiner Sicht verloren zu gehen, erklärte Siegert. Sie warnte aber davor, die Metronomzahlen als absolute Werte anzusehen. Es seien Richtwerte, um eine Vorstellung vom Tempo zu bekommen: „Dann kommt man der Beethoven-Zeit näher.“ Dem Komponisten sei klar gewesen, dass es für Interpreten zahllose Möglichkeiten gebe: „Es kann nicht das Ziel sein, der idealen Beethoven-Aufführung nachzuspüren – und dann gibt es keine andere Möglichkeit mehr. Der Interpret entscheidet.“ Ohnehin müssten Musiker in Räumen mit viel Hall deutlich langsamer spielen.

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Vielfältige Interpretation bewahrten einen lebendigen Beethoven, betonte die Musikwissenschaftlerin: „Es wird keiner mit Stoppuhr im Publikum sitzen.“ Ohnehin sagte der italienische Dirigent Riccardo Chailly über das Finale der achten Sinfonie: „Es ist für jeden Klangkörper noch immer ein Wagnis, dieses Finale mit Beethovens Metronomzahl anzugehen.“

RND/dpa

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