Bildungsforscher fordert: Das Corona-Schuljahr aufholen – „bei kleinen Kindern wiegt das schwer“
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Wie die verlorene Schulzeit in der Pandemie aufholen?
© Quelle: Marcel Kusch/dpa
In Sachsen gingen diese Woche wieder die Grundschulen an den Start. Auch andere Bundesländer ziehen nach. Ist die Rückkehr zum Präsenzunterricht richtig?
Ob das infektiologisch richtig ist, kann ich nicht sagen. Was ich aber sagen kann ist: Sobald sich Spielräume ergeben, müssen die Schulen öffnen. Dann müssen wir loslegen, und zwar volle Pulle. Und es ist auch richtig, wie es gerade gemacht wird, bei den Jüngsten anzufangen. Denn die Probleme, die jetzt entstehen, sind schwerwiegend.
Nach dem ersten Lockdown hatten Sie gesagt, die Probleme könnten noch aufgefangen werden – solange die Schulen kein weiteres Mal schließen. Inzwischen sind die Kinder erneut seit zwei Monaten zu Hause.
Nicht nur das. Wir reden viel zu wenig darüber, dass auch in den zwei Monaten der Schulöffnung im September und Oktober kein Normalbetrieb herrschte. Das war ein bisschen besser als Fernunterricht, aber gut war es nicht. Die Schulen haben Zeit damit verschwendet, ob sie die Fenster öffnen können oder nicht. Und von einer 45-minütigen Unterrichtsstunde blieben vielleicht 25 oder 30 Minuten Lernzeit, weil die Lehrkräfte von so vielen organisatorischen Dingen aufgehalten wurden. Außerdem ist die Welt aus den Fugen geraten, da kann man doch den Kindern nicht sagen: Wir machen jetzt mal normalen Unterricht. Daher muss man festhalten, dass wir seit 12 Monaten weit weg vom regulären Betrieb sind, und entsprechend gehe ich davon aus, dass in allen möglichen Bereichen Defizite entstanden sind.
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Die Pandemie und wir
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Bisher dreht sich in der Debatte alles um das Für und Wider des Präsenzunterrichts. Ist denn, wenn die Kinder jetzt wieder in die Schulen zurückkehren, tatsächlich alles wieder gut?
Nein, natürlich nicht. Der Präsenzunterricht ist, wie schon im September und Oktober, der Versuch von Schadensbegrenzung. Tatsächlich muss man jetzt ziemlich viel aufholen. Dinge, die vor 20 Jahren versäumt wurden, genauso wie Dinge, die jetzt akut versäumt wurden. Die Kinder müssen ein Jahr aufholen – und ein Jahr bei kleinen Kindern wiegt schwer. Ohne die krassesten Kraftanstrengungen kriegt man das nicht hin.
Schon vor der Pandemie hatten wir einen Kompetenzunterschied von rund einem Jahr bei sozial benachteiligten Kindern.
Was heißt das konkret?
Schon vor der Pandemie hatten wir einen Kompetenzunterschied von rund einem Jahr bei sozial benachteiligten Kindern. Wir haben da schon gesagt, dass das ein Riesenproblem ist, weil es zu Risikobiografien führt, weil diese Kinder später vielleicht nicht im Stande sind, ein eigenständiges Leben zu führen. Gerade für Grundschüler wird es jetzt besonders heikel, und zwar aus drei Gründen: Erstens ist das Gehirn bei kleinen Kindern so plastisch, dass ein Jahr weniger lernen viel drastischere Auswirkungen hat als bei höheren Altersklassen. Zweitens kann die soziale Ungleichheit eigentlich im Grundschulalter noch am besten bekämpft werden, aber gerade jetzt verstärkt die Pandemie die Ungleichheit noch weiter. Und das Dritte ist: Alles, was diese Kinder lernen, sind grundlegende Fähigkeiten. Man kann nicht ein in politischer und ökonomischer Hinsicht eigenständiger Mensch sein, wenn man nicht alles komplett kann, was in der Grundschule unterrichtet wird.
In der Corona-Pandemie braucht es flexible Konzepte für Schulen
Was für Konsequenzen leiten sich aus dieser Erkenntnis ab? Das Schuljahr wiederholen?
Na ja, man kann jedenfalls nicht einfach sagen: Wir versetzten jetzt einfach alle! Besser wäre es, alle wiederholen zu lassen, aber auch das können wir nicht. Dazu fehlen die Räume und die Lehrer. Deswegen muss man jetzt wirklich flexibel Konzepte entwickeln, anders geht’s nicht.
Was ist damit, den Lehrplan zu entschlacken? Kunst, Religion, vielleicht verzichtbar in dieser Zeit?
Was man nicht lernt, muss man halt irgendwann nachholen. Im Fach Kunst lernt man ja nicht das Malen, sondern man lernt die Motorik. Und wir sind uns sicher einig darüber, dass man lesen, schreiben und rechnen können muss. Schon vor dem Shutdown gab es einen großen Anteil von Kindern, die mit riskanten Defiziten auf eine weiterführende Schule wechseln. Wir reden hier von jedem fünften Kind!
Die betroffenen Jahrgänge werden schon jetzt eine Kompetenzdelle haben, die noch in Jahren oder Jahrzehnten messbar sein wird. Für Fünftklässler, deren Eltern beide Anwälte oder Ärzte sind, ist es vielleicht nicht ganz so schlimm. Für andere aber verschlechtert sich die Situation dramatisch. Die Folgen werden für einige verheerend sein. Wir haben noch keine Zahlen darüber, aber wenn wir vorher von jedem fünften Kind gesprochen haben, das starke Kompetenzdefizite hat, ist es perspektivisch vielleicht sogar jedes zweite. Und ich traue unserem System nicht zu, das wieder auszugleichen. Obwohl es auszugleichen wäre.
Nehmen wir jetzt Geld in die Hand, entwickeln Förderkonzepte und bauen den Ganztag aus, fördern wir im Laufe der nächsten Jahre die Kompetenzen der Kinder.
Wie denn?
Bildungsreformen wirken, aber immer verzögert. Nehmen wir jetzt Geld in die Hand, entwickeln Förderkonzepte und bauen den Ganztag aus, fördern wir im Laufe der nächsten Jahre die Kompetenzen der Kinder. Aber es wirkt noch nicht sofort. Deshalb ist es so wichtig, dass allen klar ist, dass da Druck ist! Jetzt können wir noch handeln. Die jetzigen Drittklässler sind noch eine ganze Weile im System. Es reicht also, wenn Maßnahmen in zwei, drei Jahren im System ihre Wirkung entfalten. Das heißt aber auch, man muss jetzt Gas geben.
Schule ist mehr als nur der Lernplan
Was genau muss jetzt geschehen?
Wir haben zu wenige Lehrerinnen und Lehrer, zu wenig andere Fachkräfte in den Schulen, wir haben zum Teil katastrophale Raumsituationen. Vor allem aber muss das System flexibler werden und stärker daraufhin orientiert sein, die Lebensbedingungen eines jeden einzelnen Kindes zu erkennen. Vor einem Jahr wussten wir nicht, wie es bei den Kindern zu Hause ist. Haben sie einen Drucker, einen Schreibtisch, Geschwister? Das ist doch katastrophal! Das muss alles bekannt sein, damit man die Kinder fördern kann. Außerdem brauchen wir den Ausbau des Ganztags und multiprofessionelle Teams, Förderung im Bereich Musik, Lesen, Ernährung.
Alles, was in der kindlichen Entwicklung und in der Gesellschaft wichtig ist, muss in der Schule erlebbar sein. Denn es sind die Dinge, die über den Lernplan hinaus gehen, die Ungleichheit erzeugen. Schulen müssen also flexibler werden. Und das kann nicht von Düsseldorf aus oder von anderen Landeshauptstädten aus geschehen. Das muss vor Ort in Eigenverantwortung der Schulen organisiert und mit den nötigen rechtlichen und finanziellen Mitteln ausgestattet werden.
Also statt schnellen Start in den Präsenzunterricht lieber Anlauf nehmen und aufs neue Schuljahr fokussieren?
Man sollte die Schulen jetzt öffnen, weil die Eltern auf dem Zahnfleisch gehen. Und für die Kinder ist diese Zeit wirklich nicht gut. Aber das, was das System braucht, ist eine strategische Perspektive.
Es sieht aber danach aus, als diene den Politikern die Öffnung der Schulen auch dem Aussitzen der anderen Probleme. Die Rückkehr in den Präsenzunterricht ist einfacher als Lehrpläne und Prüfungsordnungen neu zu denken.
Ich finde es okay, dass man als erste Regung versucht, das alte System ans Laufen zu kriegen. Das ist nachvollziehbar, aber das ist keine Lösung. Wir müssen die aktuelle Situation in den Griff kriegen. Und da müssen wir überlegen, was wir mit dem Schuljahr machen. Ich glaube, die Verlängerung eines Schuljahres hat die wenigsten Negativeffekte.
Eine Verlängerung wie es Soziologe Marcel Helbig vorschlägt, nämlich bis Dezember?
Genau. Das ist auch nicht neu. Vor Jahrzehnten wurden schon mal die Schuljahre ein bisschen verschoben. Das hatte natürlich auch Nachteile. Nur müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass die Situation gerade so verheerend ist, dass jede Variante Nachteile hat. Wir könnten auch das Niveau senken und einfach weite Teile des Lernplans streichen. Das hätte die wenigsten strukturellen Konsequenzen, aber die volkswirtschaftlichen und auch die biografischen Folgen wären enorm. Wir müssen eine Variante finden, in der wir die Probleme im Laufe von vier, fünf Jahren in den Griff bekommen. Das sollte die Zielperspektive sein.
Schuljahr verlängern und Präsenzunterricht mit kreativen Konzepten
Es gibt zwei Bereiche, in denen kluge Vorschläge überhaupt gar nicht wahrgenommen wurden: Das sind Alten- und Pflegeheime und Schulen.
Also ein Schuljahr bis Weihnachten?
Das wäre das Klügste, birgt aber zwei große Probleme: Zum einen hätte es natürlich Auswirkungen auf Unis, auf Ausbildungsbetriebe, es hätte einen riesigen Rattenschwanz. Das zweite, viel gewichtigere Problem ist, dass diese Variante darauf abzielt, dass wir ab Sommer wieder ganz normal den Betrieb aufnehmen können, mit Körperkontakt, mit großen Förderprogrammen. Aber glauben wir das? Ich bin mir da nicht so sicher. Und weil wir so wenig über die Zukunft wissen, spricht eben Vieles dafür, so viel Normalität durch so etwas wie Regelunterricht anzunehmen, die man gewährleisten kann.
Aber gäbe es nicht auch hier kreative Lösungen, um mehr zu machen als alle paar Tage vielleicht ein bisschen Präsenzunterricht? Mehr Räume, Studierende einbinden, Ferien nutzen?
Genau diese drei Bereiche liegen so sehr auf der Hand. Wir haben überall freie Räume, die Lehramtsstudierenden haben alle ihre Jobs verloren, wären aber bestens geeignet, um die Schulen zu unterstützen. Und ich weiß gar nicht, warum wir so viele Ferien nicht genutzt haben. Wenn wir die Osterferien und die kommenden Sommerferien auch nicht nutzen, dann muss man den Ministerien wirklich schwere Vorwürfe machen. Am Anfang war man vielleicht noch ratlos, wie man unter Pandemiebedingungen die Dinge anpacken soll. Aber jetzt wissen wir doch, wie es geht. Die Studierenden könnten Patenschaften digital übernehmen und Kinder pädagogisch wertvoll betreuen. Das wäre zumindest ein Teil der Lösung.
Wenn es so auf der Hand liegt, warum findet das dann alles nicht statt?
Es gibt zwei Bereiche, in denen kluge Vorschläge überhaupt gar nicht wahrgenommen wurden: Das sind Alten- und Pflegeheime und Schulen. Das sind die Strukturen in Deutschland, die so sehr runter gewirtschaftet wurden, dass sie nicht einmal dann flexibel handeln können, wenn sie in großer Not sind. Es ist wie bei einem Patienten, der so krank ist, dass er nicht mal dann das Bett verlassen kann, wenn es beginnt zu brennen. Unser ganzes Schulsystem, von den Lehrkräften über die Schulleiter und kommunalen Behörden bis hin zu den Landesministerien, ist in einer so fundamentalen Sackgasse, dass alle Überlegungen nicht mehr funktionieren. Die Schulleiter rackern so sehr, dass sie überhaupt nicht daran denken, auch noch Studierende und Patenschaften zu koordinieren. Diese gewaltige Veränderung geht aus dem laufenden Betrieb nicht. Es wäre gegangen, hätte man die Sommerferien dafür genutzt.
Jetzt ist es also zu spät?
Im System insgesamt ist es nie zu spät. Auf Einzelfälle bezogen kann es natürlich sein, dass es jetzt schon zu spät ist. Man muss dazu auch sagen, dass man bei Kindern alles Mögliche ausgleichen kann. Dazu müssen wir gerade bei Grundschulkindern aber diesen Ausgleich schnell versuchen. Und dafür braucht es auch Schulleiter, die Spielraum und Kapazitäten haben, Konzepte zu entwickeln und eigenständiger zu werden.
Wie optimistisch sind Sie, dass das so kommen wird?
So optimistisch wie nie zuvor! Denn jetzt ist der Handlungsdruck da. Und es gibt niemanden mehr, der nicht sieht, dass das System abgerockt ist. Bis vor einem Jahr war Politikern klar, dass es nichts Riskanteres gibt, als Schulreformen umzusetzen. Jetzt gibt es nichts Riskanteres mehr, als sich nicht über Schulreformen Gedanken zu machen. Früher wurden auch in den Ministerien Probleme eher negiert, Unternehmer hatten keine Ahnung davon, dass es in den Schulen ihrer Stadt kein warmes Wasser gibt. Und auch mir war nicht klar, wie unflexibel das System selbst in einer Notlage ist. Jetzt aber haben alle das gleiche Problembewusstsein. Der Status quo ist schockierend, in die Zukunft schaue ich deshalb optimistisch.