„Essen sollte nicht stressen“ – Ernährungsmedizinerin zu Essgewohnheiten, die der ganzen Familie guttun
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/UDFORLBDHREETGFZ7R4DSLXLOI.jpeg)
Essen sollte in Familien kein Stressthema sein.
© Quelle: vectorfusionart - stock.adobe.com
Frau Awe, Sie bezeichnen sich als Expertin für intuitives Essen. Was bedeutet das?
Es bedeutet, auf seine natürlichen Hunger- und Sättigungsgefühle zu achten. Hunger zeigt sich etwa durch ein flaues Gefühl in der Magengegend oder Konzentrationsschwäche. Dann sollte gegessen werden – und zwar das, was einem wirklich schmeckt und guttut, frei von Diätgedanken. Oberste Regel beim intuitiven Essverhalten: Die Nahrung langsam und bewusst essen und bei angenehmer Sättigung aufhören. Im Gegensatz zu einer Diät hört man beim intuitiven Essen nicht auf vorgegebene Regeln, sondern vertraut auf seinen Körper.
Essen, was einem schmeckt: Wollen dann nicht alle Fastfood und Süßigkeiten essen, besonders Kinder?
Wer ganz achtsam isst, wird feststellen, dass einem die Süßigkeiten vielleicht viel zu süß schmecken und das vermeintliche Lieblingsessen doch zu künstlich ist. Spannenderweise berichten viele Eltern, dass ihre Kinder sogar Freude entwickeln, Obst und Gemüse neu zu entdecken.
Lernen, auf den Körper zu hören
Auf seine eigenen Körpersignale zu achten, fällt vielen Erwachsenen schwer. Wie können Eltern das ihren Kindern beibringen?
Idealerweise sollten Eltern eine liebevolle Begleitung für ihre Kinder sein und ihnen einen natürlichen Umgang mit sich selbst vorleben. Wenn das Kind beispielsweise sagt: „Ich bin hungrig“, sollten sie ihnen etwas zu essen geben und nicht sagen: „Du hattest erst vor zwei Stunden was. Du kannst nicht schon wieder hungrig sein“. Und wenn das Kind sagt: „Ich bin satt!“, sollten Eltern das akzeptieren, auch wenn der Teller noch halb voll ist. Die Erziehung mit erhobenem Zeigefinger hingegen geht meistens nach hinten los.
Babys schreien, wenn sie hungrig sind, und drehen den Kopf weg, wenn sie satt sind. Sie beherrschen also intuitives Essen. Wann beziehungsweise warum geht den meisten Menschen im Laufe ihres Lebens diese natürliche Gabe verloren?
Dafür gibt es viele verschiedene Gründe. Einer ist die mentale Ebene: Die meisten von uns lernen viele unbewusste Glaubenssätze, wie man essen sollte, etwa: „Wenn du aufisst, scheint die Sonne“ oder „Wenn du brav bist, gibt’s ein Eis“. Ernährung wird so an eine Bedingung gebunden „wenn – dann“. Im Gehirn entsteht, einfach gesagt, eine Nervenbahn, die ein bestimmtes Verhaltens oder eine Emotionen mit Essen verknüpft. Kinder wollen geliebt werden und denken etwa: „Wenn ich aufesse, bin ich brav, meine Eltern mögen das, und dann bekomme ich eine Süßigkeit“.
Falsches Verhältnis zu Essen stresst und ist ungesund
Kinder mit Lebensmitteln zu belohnen oder zu bestrafen, ist also keine gute Idee.
Nein. Absolut nicht! Dadurch entstehen Glaubenssätze, die uns auf Dauer schaden. Und wir verlieren die Verbindung zum Körper, hören nur noch auf das, was der Kopf denkt oder durch die Glaubenssätze gelernt hat und nicht auf das, was der Körper fühlt und an Nährstoffen braucht.
Entstehen so die typische Diätglaubenssätze wie „Man soll viel Salat essen und bloß keine Kohlenhydrate nach 18 Uhr“?
Ja. Und das stresst und ist ungesund, weil wir gegen unseren Körper arbeiten. Eine weitere Folge könnte dann das emotionale Essen sein. Im Laufe des Erwachsenwerdens erleben wir manchmal verletzende Erfahrungen. Essen kann dann zum Tröster werden. Und wenn wir Erfahrungen nicht verarbeiten oder die emotionalen Blockaden, die dahinter stehen, lösen, kann es passieren, dass wir chronisch bis ins Erwachsenenleben dazu neigen, uns mit dem Essen zu trösten, zu belohnen oder dazu benutzen, negative Gefühle oder Stress zu kompensieren. Unser Körper wird mit Lebensmitteln zugeschüttet, die er gar nicht braucht, geschweige denn gescheit verwerten kann. Unser Körper ist aber keine Mülltonne.
Essensdruck bei Kindern kann zu gestörtem Essverhalten führen
Intuitives Essen ist also für Sie der Schlüssel für körperliche und psychische Gesundheit?
Es ist meiner Meinung nach das natürlichste und langfristig gesündeste Essverhalten, weil es uns angeboren ist und so selbstverständlich sein sollte wie das Atmen. Viele Studien zeigen, dass intuitives Essen gegen Essanfälle, Essstörungen, Depressionen und ein niedriges Selbstwertgefühl hilft. Intuitive Esser haben einen niedrigeren Body-Mass-Index und fühlen sich wohler in ihrem Körper. Andere Studien belegen, dass der elterliche Essensdruck auf Kinder zu einem gestörten Essverhalten führt, dass Teenager ein dreifach erhöhtes Risiko haben, übergewichtig zu werden und schneller Essstörungen entwickeln.
Laut Ihrer Empfehlung sollte jedes Familienmitglied dann essen, wenn es wirklich Hunger verspürt. Andererseits sind gemeinsame Mahlzeiten wichtig. Wie passt das zusammen?
Familien sollen nicht auf diese gemeinsamen Mahlzeiten verzichten. Im Gegenteil: Es kann sogar zu einem gesunden Essverhalten beitragen, wenn ein natürlicher Umgang mit Essen gepflegt wird. Ich rate zudem, innerhalb der Mahlzeiten eine gewisse Flexibilität einzubringen: Zum einem muss man keine große Portion essen, wenn man keinen Hunger hat. Ein kleiner Happen oder eine Tasse Tee reichen. Zum anderen würde ich eine Auswahl an Lebensmitteln bereitstellen. Es gibt dann nicht nur Nudeln mit Bolognesesoße, sondern auch Gemüse, das man dazu nehmen kann. Die Grundbausteine der Ernährung – Proteine, Fette, Kohlenhydrate und Mikronährstoffe – sollten angeboten werden, damit sich jedes Familienmitglied eine Mahlzeit zusammenstellen kann, wie es für denjenigen gut ist. So wird der Körper satt, ist zufrieden und man vermeidet spätere Heißhungerattacken.
Die wahren Bedürfnisse des Körpers entdecken
Was passiert, wenn wir essen, worauf wir eigentlich keine Lust haben?
Verschiedenes. Auf der körperlichen Ebene geht der Körper irgendwann in den Hungermodus, der Stoffwechsel verlangsamt sich. Wir sind antriebslos, fühlen uns schlapp. Und wir bekommen Heißhunger, weil der Körper Hormone aussendet wie das PYY 3-36. Das ist wie ein Sherlock Holmes im Darm, der die eintreffende Nahrung untersucht. Haben wir etwa nur Salat gegessen, obwohl wir Lust auf Kartoffelgratin hatten, wird das Hormon das erkennen und schickt dem Gehirn die Botschaft: „Hey Leute, hier kommt nicht das an, was wir eigentlich brauchen. Schick mal ordentlich Heißhungerhormone raus, damit wir endlich die Kohlenhydrate kriegen, die wir benötigen!“
Und was raten Sie Familien für harmonisches, intuitives Essen?
Essen sollte kein Stressthema sein, sondern entspannt ablaufen und ohne Dogmen sein. Ich rate, mit einer spielerischen Leichtigkeit zurück zu den wahren Bedürfnissen des Körpers zu finden und auf die Hungersignale zu hören. Es kann sogar richtig Freude machen, wenn man Entdeckergeist mit einbringt.
Zur Person: Ernährungsmedizinerin Mareike Awe (28) hat eigenen Angaben zufolge selbst lange unter Übergewicht gelitten. In ihrem Medizinstudium hat sie sich intensiv mit Fragen der Ernährung befasst und daraufhin ihre Essgewohnheiten umgestellt. Statt auf Diäten setzte sie auf intuitive Ernährung. Die Autorin des Buchs „Wohlfühlgewicht“ (Knaur) veröffentlicht auch regelmäßig Podcasts zum Thema.