Forum Wissen Göttingen: Sprachforschung mit Kriegsgefangenen
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Zelte? Baracken? Das Kuratorenteam hat sich auf die Spuren indischer Kriegsgefangener begeben.
© Quelle: Swen Pförtner
Göttingen. Auf dem Fußboden in dem sogenannten Freiraum im Forum Wissen sind Zahlen zu lesen, umgeben von Rechtecken. Der Plan des Kriegsgefangenenlagers im Ebertal in Göttingen liegt dem zugrunde. 10.000 Gefangene konnten hier in 200 Zelten während des Ersten Weltkriegs untergebracht werden. Zu sehen ist die Ausstellung „Stimmen. Sprachforschung im Krieg, 1917-18“. Die Schau ist am Mittwochabend eröffnet worden.
Als Kolonialmacht schickte Großbritannien indische Soldaten in den Krieg. Sie kamen bereits kurz nach ihrer Ankunft im Jahr 1914 in Frankreich in Kriegsgefangenschaft. Von April 1917 bis Ende 1918 lebten sie in dem Lager in Göttingen. Der Wissenschaftler Friedrich Carl Andreas (1846-1930) hatte sich beim Kriegsministerium für ihre Verlegung eingesetzt.
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Der Spezialist für westindische Sprachen wollte sprachwissenschaftliche Forschungen mit den indischen Gefangenen betreiben. Er arbeitete vor allem mit fünf von ihnen: Sunab Gul, Abdul Aziz Khan, Hazrat Shah, Beidullah Khan und Shahdad Khan. Die Kuratoren haben diese Umstände zum Anlass genommen, über die Verknüpfung von Forschung und Krieg nachzudenken. Vor allem aber wollen sie den vergessenen Gefangenen wieder eine Identität geben.
Forum Wissen Göttingen: Lageralltag im Ebertal
Drei Stationen haben die Ausstellungsmacher entworfen, untergebracht in Zelten, jeweils verbunden mit dem Namen eines der Kriegsgefangenen. Im Innern ist seine Stimme zu hören, wie Andreas sie während der Forschungsreihen aufgenommen hat.
In einem der Zelte geht es um die Situation der Gefangenen während der Aufnahmen. Streng reglementiert war die Situation beim Einsprechen, streng reguliert auch das, was gesprochen wurde. Sehr beliebt bei den Forschenden sei das Gleichnis vom verlorenen Sohn gewesen, so Kurator Christian Vogel. Zu sehen ist auch eine Wachsplatte, in die die Aufnahmen eingeritzt wurden, eine Metallmatrize und Schellackplatten, die darauf angefertigt wurden.
In einem zweiten Zelt geht es um den Lageralltag im Ebertal. Die Bedingungen dort seien nicht besonders gut gewesen, berichtet Vogel, die Versorgung so mangelhaft wie die hygienischen Bedingungen. Auch wurden die Gefangenen zu Arbeitseinsätzen eingeteilt. Der Lagerkoller habe sich ausgebreitet, erläutert Kurator Michael Fürst. Ein Freizeitprogramm sollte Abhilfe schaffen. Sport war vorgesehen, Musik und Theater. Auch das ist in dem Zelt dokumentiert.
Forum Wissen Göttingen: Indische Kriegsgefangene
Die letzte Station ist der Forschungspraxis von Andreas gewidmet. Beispielsweise Auszüge aus Briefen finden sich dort, die Andreas an das Kriegsministerium schrieb. Sie zeugen unter anderem von einem großen Selbstbewusstsein Andreas’. „Ich glaube, dafür einstehen zu können, dass bei diesen Leuten die hier betriebene Propaganda entschiedenen Erfolg gehabt hat; sie werden nicht nur mit Gefühlen der Freundschaft und Dankbarkeit, sondern auch mit der größten Bewunderung für unsere militärischen Leistungen aus Deutschland in ihre Heimat zurückkehren.“
Begleitet wird die Ausstellung von Beginn an von einem Theaterprojekt. Luise Rist schrieb einen Text, gemeinsam mit Franziska Aeschlimann führte sie Regie. „Avaz – Voices – Unerhörte Stimmen“ heißt das Stück, das am Freitag um 19.30 Uhr Uraufführung hat. Es spielen Sultan Zeb Khawaja, Samiullah Baloch und Haneef Baloch, drei derzeit in Göttingen lebende Männer, die aus dem Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan stammen, der Herkunftsregion der Kriegsgefangenen. Sie sprechen Pashtu und Hindie, die indische Verkehrssprache. In beiden Sprachen ist die Ausstellung beschildert, dazu in Englisch und Deutsch.
In einem kleinen Film in der Ausstellung sind die Schauspieler zu sehen, wie sie ein Memorial am Grab des Kriegsgefangenen Abdul Aziz Khan auf dem alten Göttinger Stadtfriedhof zelebrieren. Sie zeichnen seinen Namen in den Schnee. Auch zwei indische Kooperationspartner des Theaterprojekts haben kurze Filme mit Memorials beigesteuert, der Name des Gefangenen in Sand geschrieben.
Der Eintritt zu den weiteren Theatervorstellungen am 1. und 2. April sowie am 2. und 3. Juni ist frei, Reservierung sind notwendig und auf der Homepage des Theaters möglich.
GT/ET