Paradies Strand: Endlich wieder Sand unter den Füßen
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Endlich wieder Strand: Im Sand können wir einfach wir selbst sein.
© Quelle: imago images/Kirchner-Media
So vieles hat uns seit Beginn der Pandemie gefehlt. Berührungen, soziale Kontakte, finanzielle Sicherheit, kulturelle Veranstaltungen und mehr. Aber auch die Unmöglichkeit zu reisen war eine bittere Einschränkung. Wer nicht zur Bergsteigerfraktion gehört, der wird vor allem das Meer vermisst haben – und den Strand. Aber jetzt hatten wir nach langer Zeit mal wieder Sand unter den Füßen. Endlich.
„No shoes, no shirt, no problems / Blues what blues, hey I forgot ’em / The sun and the sand and a drink in my hand, with no bottom / And no shoes, no shirt, no problems / No problems“ (Kenny Chesney: „No shoes, no shirt, no problems“)
„Keine Schuhe, kein Hemd, keine Probleme“, das singt der US-amerikanische Countrystar Kenny Chesney in seiner Hymne auf den Strand. Und treffender kann man das Wohlgefühl, das uns am Rand des Meeres erfasst, kaum ausdrücken. Denn hier lässt sich das Menschsein wieder auf einen längst vergessenen Naturzustand zurückführen. Einen Teil unseres zivilisatorischen Rucksacks lassen wir an der Grenzen zum Sandparadies zurück.
Der warme Sand ist wie eine Matratze und eine Decke zugleich
Wir müssen an diesem besonderen Ort Körperteile nicht bedecken, Nacktheit stört nicht – auch wenn FKK ein gesondertes Thema wäre. Wir können uns einfach hinlegen, keine drei Meter von irgendwelchen fremden Familien, und schlafen. Oder lesen. Oder in den Himmel schauen und nachdenken. Oder nichts denken. Dabei schmiegt sich der warme Sand an unseren Körper, als sei diese riesige rieselnde Matratze allein für uns an diesen Platz gelegt worden.
„Bodies in the sand, tropical drink melting in your hand / We’ll be falling in love to the rhythm of a steel drum band.“ (Beach Boys: „Kokomo“)
Wir können nichts, absolut nichts tun, faul und träge sein. Wir können einfach da sitzen wie die Beach Boys in Kokomo, einen Drink in der Hand, und niemand käme auf die Idee, von uns einen Nachweis zu verlangen, was wir denn so alles am Strand erlebt und erledigt haben. Eine Städtereise sieht da schon anders aus, dort ist Nichtstun Zeitverschwendung. Was, ihr habt euch nicht die Uffizien angeschaut? Nur Kaffee getrunken? So etwas ist in Florenz nicht möglich. In Kühlungsborn, Timmendorf, an der Copacabana oder am Lido aber schon.
„Nur Berge von Wasser sah er vor sich, die dräuend gegen den nächtlichen Himmel stiegen, die in der furchtbaren Dämmerung sich übereinanderzutürmen suchten und übereinander gegen das feste Land schlugen. Mit weißen Kronen kamen sie daher, heulend, als sei in ihnen der Schrei alles furchtbaren Raubgetiers der Wildnis.“ (Theodor Storm: „Der Schimmelreiter“)
Dass der Strand als Paradies gilt, war nicht immer so. Im Gegenteil. Die Küste war im Bewusstsein der Menschen lange Zeit als Ort der Gefahr abgespeichert. Bis ins 18. Jahrhundert hinein bereiteten die Gewalten der Natur wie Stürme und Wellen Angst. Die Assoziation mit der Sintflut erstickte jede denkbare Erholung, der Geruch nach Algen und Salz erst recht. Von Urlaub keine Spur.
Das erste Gesundheitsbad gab es im englischen Brighton
Erst der englische Arzt Richard Russell kam zu der aus heutiger Sicht bahnbrechenden Erkenntnis: Salzwasser ist gesund. Er eröffnete im englischen Brighton eine Praxis am Meer, von dort nahm die Liebe zum Strand ihren Lauf. 1793 erreichte sie die Ostsee, in Heiligendamm eröffnete das erste deutsche Seebad. Aus dem Gesundheitswahn entwickelten sich Mitte des 19. Jahrhunderts vielfältige Lüste auf Küste. Urlaubsorte entstanden am Meer, mit Folgen für Tourismus, Kultur und Lebensart.
„Es war ihr Itsy Bitsy Teenie Weenie / Honolulu-Strand-Bikini / Er war schick und er war so modern / Ihr Itsy Bitsy Teenie Weenie / Honolulu-Strand-Bikini / Ja, der gefiel ganz besonders den Herren / Eins, zwei, drei, na, was ist denn schon dabei?“ (Club Honolulu: „Itsy Bitsy Teenie Weenie Honolulu-Strand-Bikini“)
Auch für die Mode hatte die neue Strandliebe Folgen. Gingen Männer anfangs noch in heute clownsartig anmutenden Ringelbadeanzügen und Frauen mit so viel Stoff ins Meer, dass sich das halbe Meer darin sammelte, wurde die Bademode mit den Jahrzehnten immer knapper. Als im Juli 1960 Caterina Valente und ihr Bruder Silvio Francesco mit dem Itsy-Bitsy-Song über eine überaus knappe Strandbekleidung die deutschen Charts stürmte, lag die Erfindung des Bikini keine 15 Jahre zurück. Als Louis Réard seinen Badeanzug erfand, der aus nur vier Dreiecken bestand, war der Skandal riesig. Erstmals wurde der Nabel der Frau nicht bedeckt. Dies war damals so undenkbar, dass Réard eine Stripperin als Model engagieren musste, weil sich sonst niemand bereit erklärte, das revolutionäre Modestück vorzuführen. Heute denkt sich schon lange keiner mehr: Na, was ist denn schon dabei?
„Here by the sea and sand / Nothing ever goes as planned“ (The Who: „Sea and Sand“)
Strand ist Erotik. Zum einen steigert der ständige Anblick nackter Haut bei Männern und Frauen die Lust. Zum anderen ist der Strand zumindest am Abend und in der Nacht ein idealer Ort für die menschlichste aller Zusammenkünfte. Die Frage „An welchem Ort hätten Sie am liebsten (noch) einmal Sex?“ beantworteten 2018 volle 36 Prozent mit: „In der Natur: Wald, Strand oder Kornfeld.“ Bei kaum einer Umfrage landet der Strand nicht auf dem ersten Platz der erotischen Sehnsuchtsorte. Der Reiz, erwischt zu werden, spielt da ebenso eine Rolle wie die Nähe zur Natur und die Schönheit des Sternenhimmels. Zudem ist der Strand ein Ort der Lebensfreude, der Liebe und der Spontaneität. Nichts verläuft hier, wie man es plant, sangen 1973 The Who.
„Das ist ein sündhaft blauer Tag! / Jetzt schlägt das Meer mit voller Welle / gewiss an eben diese Stelle, / wo dunnemals der Kurgast lag.“ (Kurt Tucholsky: „Schöner Herbst“)
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden aus den Gesundheitsstätten am Meer immer häufiger touristische Orte. Neue entstanden zuhauf. Bis in die Zwanzigerjahre war der Aufenthalt am Strand meist noch ein Privileg des gehobenen Bürgertums. Erst mit der Revolution von 1918/1919 wurde auch der Strand demokratisiert.
Am Strand entstehen neue Freundschaften
Das prägt ihn bis heute. Am Strand treffen Menschen unterschiedlicher Schichten und Einkommensklassen zusammen. Er ist ein Ort, der Verbindungen schafft. Welches Kind ist noch nie ohne die Telefonnummer oder Adresse einer neuen Urlaubsbekanntschaft nach Hause gekommen? Freundschaften entstehen, die jenseits der Sandburgen nie entstehen würden. Zumeist – so ehrlich muss man sein – überlebt die Freundschaft aber selten länger als ein paar ausgetauschte Briefe.
„Männer gibt’s wie Sand am Meer, / Vom Bäcker bis zum Millionär. / Es werden täglich immer mehr, / Drum fällt der Abschied mir nicht schwer. / Ich weine Dir nicht hinterher, / Männer gibt’s wie Sand am Meer.“ (Ideal: „Männer gibt’s wie Sand am Meer“)
Wie Sand am Meer. Wenn man im Deutschen eine Formel dafür finden will, dass es etwas im Überfluss gibt, wird man metaphorisch an der Küste fündig. Doch eins wird es schon bald nicht mehr wie Sand am Meer geben: Sand am Meer. Auch wenn man sich kaum vorstellen kann, dass dieser als endlos geltende Naturstoff irgendwann einmal knapp werden könnte: Der Bedarf an Sand für Beton und Ziegelsteine, für Glas und Straßen hat dazu geführt, dass Sand nach Wasser als am zweitmeisten verbrauchte Ressource der Welt gilt.
„I’m sitting on the beach / Watching the water / How lonely I am longing for you“ (Zididada: „Sitting on the Beach“)
Der Strand ist nicht nur ein Ort, nach dem man, sondern auch an dem man grenzenlos viel Sehnsucht haben kann. Der Liebeskummer schmerzt noch einmal besonders, wenn die unendliche Weite der See und das für Jugendliche zuweilen enervierend vor sich hin plätschernde Meer kein Ende finden will. Alle um einen herum sind glücklich und tollen im Sand – nur man selbst fühlt sich auseinandergerissen vom Vermissen. Und die Wellen liefern den Soundtrack dazu. Endlich wieder.