Viren gegen Bakterien: Wie Phagen Lebensmittel sicherer machen könnten
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Eine wissenschaftliche Mitarbeiterin im Labor der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ), wo eine Phagen-Bibliothek entsteht.
© Quelle: picture alliance/dpa
Hannover. Es klingt ein wenig abwegig: Ausgerechnet Viren sollen Lebensmittel sicherer machen? Den meisten Menschen sind Viren nur als Krankheitserreger ein Begriff. Doch tatsächlich gibt es Exemplare, die Bakterien abtöten – und zwar auch solche Bakterien, die Tausende von Lebensmittelinfektionen im Jahr allein in Deutschland verursachen. Bakteriophagen – oder kurz Phagen – werden diese natürlichen Gegner der Bakterien genannt.
Phagen werden in den USA bereits verwendet
Die winzigen Strukturen gelten nicht als Lebewesen. Sie haben keinen eigenen Stoffwechsel und können sich nur vermehren, wenn sie in Kontakt mit ihren Wirtsbakterien kommen. Phagen sind überall in der Umwelt verbreitet, im Boden, im Wasser und auch im und am menschlichen Körper.
Die Idee, Phagen zur Bekämpfung von bakteriellen Krankheitserregern einzusetzen, ist nicht neu. Vor allem in der Humanmedizin ist das Interesse seit Jahren groß. Fachleute hoffen unter anderem, Phagen etwa als Alternative zu Antibiotika zu nutzen und so auch dem weltweiten Problem von Antibiotika-Resistenzen Einhalt zu gebieten.
In der Lebensmittelindustrie werden Phagen etwa in den USA, Kanada oder der Schweiz bereits verwendet. In Deutschland und der EU werden entsprechende Präparate noch eher verhalten genutzt. Doch auch hierzulande erforschen Wissenschaftler das Potenzial der Bakterienkiller.
Phagen gegen die häufigste Quelle für Lebensmittelinfektionen
Eine von ihnen ist Sophie Kittler, Leiterin der Forschungsgruppe Phagen am Institut für Lebensmittelqualität und -sicherheit der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Die Forscher beschäftigen sich unter anderem mit dem Einsatz von Phagen gegen den Lebensmittelkeim Campylobacter. Nach Angaben der EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA waren solche Bakterien 2018 mit die häufigste Quelle für Lebensmittelinfektionen. Sie verursachten allein in Deutschland knapp 68.000 Magen-Darm-Infektionen.
Campylobacter kommt natürlicherweise im Darm vieler Tiere vor, etwa in Hühnern. Das Federvieh scheidet die Keime mit dem Kot aus, so dass diese sich in Hühnerställen rasant verbreiten können. “Auch mit guter Hygiene kann man kaum verhindern, dass die Keime in die Ställe kommen. Dort sind sie kaum unter Kontrolle zu bekommen”, erläutert Kittler. Bei der Schlachtung gelangen sie auf das Fleisch der Tiere. Wird es vorschriftsmäßig verarbeitet und erhitzt, werden die Keime abgetötet. Geschieht das nicht, kann auf das Hühner-Mahl allerdings eine mitunter heftige Durchfallerkrankung folgen.
Phagen-Cocktail kurz vor der Schlachtung?
“Es ist die häufigste meldepflichtige bakterielle Erkrankung in Deutschland. 60.000 bis 70.000 Erkrankungen werden jährlich ans Robert Koch-Institut gemeldet”, erläutert Kittler. Die eigentliche Zahl der Infektionen dürfte viel höher sein, weil viele Menschen mit Durchfall nicht zum Arzt gehen. Sehr selten treten schwere Folgeerkrankungen auf, etwa das Guillain-Barré-Syndrom, eine neurologische Erkrankung.
Kittler und ihr Team untersuchen, ob sich das Problem mit Hilfe von Phagen bereits im Hühnerstall lösen lässt. Nach erfolgreichen Vorversuchen unter Laborbedingungen versetzten sie das Trinkwasser der Tiere in mehreren Hähnchenhaltungen kurz vor der Schlachtung mit einem Phagen-Cocktail, der gegen vier verschiedene Campylobacter-Varianten wirkte. In einem Versuch waren die Erreger bereits nach einem Tag nicht mehr im Kot der Tiere nachzuweisen, die Ergebnisse von zwei weiteren Versuchen zeigten ähnliche Trends. “Hier besteht noch Forschungsbedarf, wir müssen noch Möglichkeiten finden, die Bedingungen genauer kontrollieren zu können.”
Keine Gesundheitsschäden bekannt
Gesundheitlich bedenklich ist der Verzehr von Produkten, die mit Phagen behandelt wurden, nach bisherigem Wissen nicht. “Es sind überall Bakteriophagen in der Umwelt vorhanden. Wir nehmen sie täglich mit unserer Nahrung auf und beherbergen verschiedenste Bakteriophagen in unserem Darm”, sagt Kittler. Zusätzliche Risiken seien deshalb nicht zu erwarten. Sie betont, dass zudem für mögliche Anwendungen nur solche Phagen ausgewählt werden, die ihr Erbgut nicht in das von Bakterien integrieren. Es gibt Phagen-Varianten, die aufgrund einer besonderen genetischen Ausstattung dazu in der Lage sind. Da Bakterien auch gegen Phagen Resistenzen entwickeln können, rät die Forscherin bei der Bekämpfung von Lebensmittelkeimen zu einer Kombination verschiedener Verfahren.
So wirkt der “Phagen-Cocktail”
Die Idee von Kittler, das Trinkwasser der Hühner mit einem Phagen-Cocktail zu versetzen, fällt unter die sogenannten pre-harvest-Anwendungen, also “vor der Ernte” im Tier. Bei den post-harvest-Anwendungen werden die Phagen bei der Herstellung und Verarbeitung von Lebensmitteln eingesetzt. So können etwa die Oberflächen von Obst, Gemüse, Fleisch oder Käse mit Phagen-Präparaten behandelt werden. “In der Regel handelt es sich um Lösungen, die gesprüht werden”, erläutert Jens Andre Hammerl vom Bundesinstitut für Risikoforschung (BfR). “In Flüssigkeiten können sich die Phagen bewegen, das ist wichtig, damit sie mit dem Erreger in Kontakt kommen können.”
Der Phagen-Cocktail muss dabei genau auf die betreffenden Keime zugeschnitten werden, wie etwa jene, die gerade im Hühnerstall zirkulieren. Denn Phagen attackieren ihre Feinde sehr gezielt – jede Bakterienart, manchmal jeder Bakterienstamm, wird von einem spezifischen Phagen infiziert.
In Braunschweig entsteht eine Phagen-Bibliothek
Welche Phagen welche Bakterien bekämpfen, untersucht ein Forscherteam um Christine Rohde am Leibniz-Institut – Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Braunschweig. Dort wird seit vielen Jahren am Aufbau einer Phagen-Bibliothek gearbeitet. Neue interessante Phagen finden sich quasi überall in der Natur. “Wir gehen in die Umwelt und nehmen Proben. Häufiger noch lassen wir uns Abwasser von Kliniken schicken, in denen wir dann nach Phagen suchen”, erläutert Rohde. Einmal aufgespürt, werden die Phagen aus den Proben isoliert und genetisch genau charakterisiert. So können die Forscher auf ihre Eigenschaften schließen.
Sie werden dann in Fläschchen mit einer bakterienfreien Lösung aufbewahrt. “Bei Bedarf werden sie mit den passenden Bakterien zusammengetan”, erläutert Rohde. Ziel der Braunschweiger Forscher ist es vorrangig, Phagen für die medizinische Anwendung zu charakterisieren. Ein Mittel ist in Deutschland noch nicht zugelassen, es laufen aber bereits erste Projekte mit klinischen Studien.
“Listex” zur Bekämpfung von Listerien auf Wurst und Käse
Auch in der hiesigen Lebensmittelindustrie ist noch kein Phagen-Präparat zugelassen. Ein Antrag auf Zulassung liegt für ein Präparat des niederländischen Unternehmens Micreos bei der EU vor. Listex, so der Name, wird in anderen Ländern wie den USA bereits zur Bekämpfung von Listerien eingesetzt. Diese Bakterien gehören zu den selteneren Verursachern von Lebensmittelinfektionen. 2019 wurden in Deutschland dem Robert Koch-Institut aber immerhin knapp 600 Fälle gemeldet. Im Herbst vergangenen Jahres sorgte das Bekanntwerden von Listerien-Verunreinigung beim hessischen Wurst-Hersteller Wilke für Aufregung. Mehrere Menschen starben vermutlich am Verzehr der Produkte. Der Betrieb ist mittlerweile insolvent.
Listex kann etwa zur Behandlung von Käse eingesetzt werden – gerade auf Schnitt- und Weichkäse aus Rohmilch kann es zu Listerienbefall kommen, aber auch bei der Herstellung von Käse aus pasteurisierter Milch. Die Keime werden vor allem Menschen mit einem geschwächten Immunsystem, kleinen Kindern und Schwangeren gefährlich. Um die Keimbelastung zu senken, wird Listex auf die Oberfläche des Käses aufgebracht. Geschmack oder Textur der Lebensmittel würden durch die Phagen-Anwendung nicht beeinträchtigt, so der Hersteller.
EU zögert noch mit der Zulassung
Die US-Lebensmittelbehörde FDA beurteilte das Präparat bereits 2006 als sicher und erteilte eine Zulassung als Verarbeitungshilfsstoff. In der EU hingegen ringen die zuständigen Behörden und der Hersteller seit Jahren um eine Zulassung. Die unklare Rechtslage sei der Grund dafür, dass Lebensmittelunternehmen nur zögerlich auf Präparate wie Listex zurückgriffen, sagt Micreos.
Es seien noch einige Fragen zur Sicherheit des Phagen-Präparats zu klären, sagt Hammerl vom BfR. “Wir wissen aber etwa aus der Schweiz oder den USA, dass Listex seit Jahren gut funktioniert. Man sollte nicht zu lange warten mit einer Entscheidung, da auch Todesfälle verhindert werden können.”
Dringend neue Ansätze zur Bekämpfung nötig
Fest steht, neue Ansätze zur Bekämpfung von lebensmittelbedingten Infektionen werden dringend benötigt. Jährlich würden in Deutschland mehr als 200.000 Erkrankungen gemeldet, die vermutlich auf den Verzehr verunreinigter Lebensmittel zurückgingen, heißt es beim BfR. Lebensmittelbedingte Infektionen würden in den kommenden Jahren sowohl national als auch weltweit “ein gravierendes Problem” darstellen.
Infektionen mit Salmonellen und Campylobacter waren laut einem Bericht der EFSA und des Europäischen Zentrums für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) 2018 die häufigsten Ursachen lebensmittelbedingter Infektionen in der EU. Viele Infektionen ließen sich durch bessere Hygiene beim Umgang mit und bei der Zubereitung von Lebensmitteln verhindern. Der Einsatz von Phagen-Präparaten könnte dazu beitragen, das Problem an der Wurzel zu packen – also die Verunreinigung der Produkte bereits bei der Herstellung zu minimieren.
Phagen zur Reduzierung von Antibiotikaeinsatz
Diskutiert wird der Einsatz von Phagen auch, wenn es darum geht, den Einsatz von Antibiotika zu reduzieren. In Deutschland ist es verboten, in der Tierhaltung rein vorsorglich Antibiotika einzusetzen. Sie dürfen lediglich bei nachgewiesenen Erkrankungen verabreicht werden. Das soll unter anderem verhindern, dass in Ställen Antibiotika-resistente Keime entstehen, die dann in den Menschen gelangen und sich verbreiten. Sie bereiten in der Humanmedizin große Probleme, da diese Keime unempfindlich für schlimmstenfalls alle vorhandenen Antibiotika sind.
Trotz eines Rückgangs beim Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung in den zurückliegenden Jahren ist die Entstehung von resistenten Erregern in Tierställen noch immer ein Problem. Immer wieder finden sich bei Untersuchungen resistente Keime auf Fleischproben. Mit Blick auf eine mögliche künftige Anwendung von Phagen-Präparaten warnt Hammerl vom BfR allerdings vor einem sorglosen Umgang mit den Präparaten. Man dürfe bei den Phagen nicht den gleichen Fehler machen wie bei den Antibiotika und sie nur dann einsetzen, wenn es nötig und hilfreich sei. “Sie dürfen nicht als Vorwand dienen, um Hygienemängeln Vorschub zu leisten.”
RND/dpa