Weg mit dem „Busenkäfig“! Warum Frauen häufiger mal auf den BH verzichten sollten
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/NXP3QSDJRVHRVG2IFCN32EYGBE.jpeg)
Berlin: Eine Teilnehmerin einer Fahrraddemo unter dem Motto „No Nipple is free until all Nipples are free!“ hat auf ihrer Brust den Schriftzug „Free“ stehen. Die Demonstration ist eine Reaktion auf einen Polizeieinsatz, bei dem sich eine Frau auf einem Spielplatz in Plänterwald mit nackter Brust sonnte.
© Quelle: Christophe Gateau/dpa
Frauen gelten als Verlierer in der Corona-Pandemie. Sie sind es, die sich viel häufiger als Männer im Homeoffice um Haushalt, Kinder und Küche kümmern. Sie sind beim Homeschooling in der Regel gefordert, wenn es vormittags parallel zu Videokonferenzen mit dem Arbeitgeber im Wohnzimmer auf einmal um das Einmaleins, Französischvokabeln oder einen Aufsatz über Hitlers Rhetorik geht. Corona – so bestätigen es zahlreiche Studien – verfestigt alte Rollenbilder und wirft Frauen in Sachen Gleichberechtigung teilweise um Jahrzehnte zurück.
Da klingt es zunächst einmal wie ein eher lässlicher Nebeneffekt, dass die Pandemie bei Frauen an bestimmten Stellen offenbar tatsächlich emanzipierend wirkt: am weiblichen Busen nämlich. Corona – so titelten Zeitschriften allerorten schon im ersten Lockdown – könnte möglicherweise den Niedergang eines Kleidungsstücks einläuten, dessen Sinn schon in der Vergangenheit immer mal wieder umstritten war: des Büstenhalters, abgekürzt BH, von manchen Frauen auch „Boob cage“, „Busenkäfig“, genannt. Dank des Homeoffice im Lockdown spielten klassische Bürokleiderordnungen plötzlich keine Rolle mehr, casual – entspannt, bequem – war plötzlich beim Arbeiten angesagt. Für immer mehr, vor allem jüngere Frauen, bedeutete das in Zeiten von Covid-19 zumindest unter Pullover, T-Shirt oder Bluse oben ohne.
BHs für Neunjährige – echt jetzt?
„Braless“ (deutsch: ohne BH) oder no-bra heißt der Trend. Es gab ihn schon vor Corona, die Pandemie hat ihn nur verstärkt. Die Frage, ob Frauen einen BH tragen sollten oder nicht, ist seit Langem umkämpft. Sie ist es vor allem deshalb, weil die Antwort direkt ins Zentrum weiblicher Selbst- und Körperliebe und gesellschaftlich geprägter Körpernormen führt. Wie absurd diese zum Teil zur Zeit sind, wie stark vom Bedürfnis geprägt, perfektionistischen Schönheitsidealen zu entsprechen, kann man daran sehen, dass heute schon ganz junge Mädchen das Gefühl haben, sie müssten einen BH tragen, lange bevor man so etwas wie einen Busen auch nur ansatzweise sieht. Bustier, treffender noch Kinder-BH, heißen die Kleidungsstücke, mit denen neunjährige Mädchen heutzutage unter dem T- oder Sweatshirt schamhaft ihren nicht vorhandenen Busen bedecken, einfach weil es sich unter Gleichaltrigen so gehört.
Wenn ich trage, was komfortabel ist, bin ich keine Frau. Wenn ich die Hüllen fallen lasse, bin ich eine Schlampe.
Billie Eilish (19), US-Sängerin
Die Modekette Primark warb 2017 sogar mit einem gepolsterten BH für siebenjährige Mädchen in ihrem Sortiment. Dem Vorwurf der Sexualisierung trat das Unternehmen damals mit dem Argument entgegen, der BH sei mit seinem zurückhaltenden Design lediglich zur „Unterstützung“ und zum „Komfort“ der Trägerinnen gedacht. Die Frage, was bei Siebenjährigen eigentlich „unterstützt“ werden muss, blieb unbeantwortet.
Schlafen im BH gegen Hängebusen?
Was aber ist die Konsequenz solcher Kindermoden? Formende BH-Oberteile suggerierten schon jungen Mädchen, wie eine Brust auszusehen habe, um akzeptabel zu sein, kritisierte Stevie Schmiedel von der Bildungsorganisation Pinkstinks 2019. Nicht -formende Alternativen seien rar: Soft-BHs für Teens gebe es kaum zu kaufen, man finde auch für Zwölfjährige weitgehend gepolsterte BHs und gebe Kindern so das Gefühl, dass diese Modeteile der Status quo seien, sagte Schmiedel damals.
Die Sehnsucht nach einem möglichst formschönen Busen und die Frage, welche Rolle der BH dabei spielt, beschäftigt auch erwachsene Frauen stark. Die Modezeitschrift „Brigitte“ beispielsweise, mit einer Auflage von knapp 300.000 Exemplaren kein ganz unbedeutender Player in Frauenfragen, verhandelt ganz ernsthaft die Frage, ob es gesund ist, den BH auch nachts zu tragen – und ob Schlafen im BH einen Hängebusen verhindert (Spoiler: Tut es nicht).
Wirklich belastbare Studien gibt es offenbar bislang nicht. Das Brustgewebe zu stützen habe in erster Linie eine kosmetische Funktion, keine gesundheitliche, sagte Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte, Mitte 2020 der dpa. Es werde durch den BH nicht geschwächt, und das Weglassen des BHs stärke das Gewebe auch nicht. Mit einer großen Brust lange Zeit ohne BH zu verbringen verursache bei vielen Frauen aber Rückenschmerzen. „Welche Variante für die Frau angenehmer ist, das muss sie selbst ausprobieren, wenn sie das möchte“, schlussfolgert Albring.
Zweifelhafte Körperbilder auflösen
Das Problem ist: Die Frage, was ihnen angenehm ist, leitet Frauen in Schönheitsfragen in der Regel nicht. Der BH beispielsweise ist schon bei Jugendlichen nicht das einzige Mittel, um anderen zu gefallen, indem man verbirgt, wie man wirklich aussieht. Spanx heißt die figurformende Bauch-weg-Shapeware, die vor etwas mehr als zehn Jahren von den USA aus ihren Siegeszug antrat. Sowieso schon spindeldürre Hollywoodstars wie Gwyneth Paltrow schwärmten, sie presse frau einfach zusammen: „Großartig. So machen es alle Hollywoodgirls.“ Es machen aber nicht nur alle „Hollywoodgirls“ – bei denen es sich in Wirklichkeit zumeist um gestandene, schwerreiche Frauen handelt –, sondern leider auch viele ganz normale Jugendliche, junge Frauen.
Wir werden 2000- bis 5000-mal pro Woche mit Bildern digital manipulierter Körper konfrontiert.
Es passiert immer noch viel zu selten, dass prominente Frauen wie die Schauspielerin Nora Tschirner öffentlich darüber sprechen, dass sie es leid sind, kaschierende Unterwäsche zu tragen. Sie habe irgendwann festgestellt, dass sie als „Tatort“-Kommissarin keine Bauchweg-Unterhosen anziehen wolle, wenn sie „eine Frau verkörpere, die ein zwei Monate altes Kind hat“, konstatiert Tschirner 2017 in einem Interview. Tschirner bringt im selben Jahr den Dokumentarfilm „Embrace“ mit heraus. Hauptdarstellerin Taryn Brumfitt fühlt sich nach der Geburt ihrer Tochter unglücklich mit ihrer Figur. Sie trainiert, ernährt sich gesund und ist am Ende nur noch unglücklicher. Bis sie sich fragt, welches Vorbild sie für ihre Tochter sein möchte. Etwa die Hälfte aller jungen Mädchen zwischen fünf und zwölf Jahren wollen abnehmen. Ähnliche viele normalgewichtige Frauen denken, sie seien zu fett. Das sind nur zwei erschreckende Erkenntnisse, die „Embrace“ transportiert.
Frauen können es niemandem recht machen
Woher kommt das? Es hat auch damit zu tun, dass soziale Medien so oft gefakte Ansichten von perfekten Figuren transportieren. „Wir werden 2000- bis 5000-mal pro Woche mit Bildern digital manipulierter Körper konfrontiert“, sagt die britische Journalistin und Psychoanalytikerin Susie Orbach. Wie sehr junge Frauen unter so zweifelhaften Schönheitsdiktaten leiden, hat Anfang 2020 die Sängerin Billie Eilish demonstriert. In einem Video entledigt sie sich vor schwarzem Hintergrund langsam ihres Sweatshirts. Die heute 19-Jährige, eigentlich für ihren körperverhüllenden Schlabberlook bekannt, ist zunächst im eng anliegenden Body, dann im BH zu sehen, der ihre großen Brüste erkennen lässt.
In einem Interview mit dem Magazin „Elle“ hatte Eilish noch im Oktober 2019 darüber gesprochen, dass sie diese mit ihren weiten Klamotten kaschieren will. „Ich spüre eure Blicke, immer. Wenn ich danach lebe, werde ich niemals fähig sein, mich zu bewegen“, lautet ihre Botschaft fünf Monate später demonstrativ. „Wenn ich trage, was komfortabel ist, bin ich keine Frau. Wenn ich die Hüllen fallen lasse, bin ich eine Schlampe“, lautet ihre Kritik.
Dahinter steckt die Erkenntnis, dass Frauen es in Zeiten optimierter Körperbilder sowieso niemandem recht machen können – am wenigsten vermutlich sich selbst. Ändert die durch die Pandemie gewonnene, neue Freiheit, auf den einengenden BH einfach mal verzichten zu können, daran etwas? Ist es, wie die Zeitschrift „Vogue“ im vergangenen Jahr fragte, wirklich an der Zeit, dem BH Adieu zu sagen? Vermutlich nicht. Aber die Pandemie eröffnet an dieser Stelle zumindest den Blick dafür, dass eine Kleiderordnung eben nur eine Kleiderordnung und damit nicht alternativlos ist. Allein das wird hoffentlich auf die ein oder andere Frau – und vor allem auf das ein oder andere Mädchen – befreiend wirken.