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Weltklimarat-Bericht: Klimawandel ist weit verbreitet, schnell und verstärkt sich

Der Weltklimarat (IPCC) hat den ersten Teil seines 6. Klimaberichts präsentiert.

Der Weltklimarat (IPCC) hat den ersten Teil seines 6. Klimaberichts präsentiert.

Für Line Nagell Ylvisåker waren es die Lawinen. Die Schneemassen, die sich in ihr Dorf auf Spitzbergen wälzten, in die Häuser eindrangen und Freunde, Bekannte, Nachbarn unter sich begruben. „Beim ersten Mal dachte ich: Das kann ein einmaliges Erlebnis gewesen sein“, erzählt die Journalistin und Autorin („Meine Welt schmilzt“). Eine tragische Kombination aus schlechtem Wetter, schlechtem Untergrund, Pech. Doch dann geschah es wieder. „Und ich bekam Angst.“ Plötzlich sah Ylvisåker ihre Heimat mit anderen Augen.

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Das theoretische Wissen um die Gefahren des Klimawandels ist eine Sache. Am eigenen Körper zu erleben, zu sehen, wie sich das eigene Dorf, die eigene Region, die eigene Heimat verändert, etwas völlig anderes. „Ich begann, das Wetter, all die Muster und was geschah, in einem anderen Licht zu sehen“, sagt Ylvisåker.

Was für sie die Lawinen waren, sind für andere die reißenden Fluten, die im Westen Deutschlands in diesem Sommer ganze Städte in Trümmer gelegt haben. Sind in Italien, Griechenland und der Türkei die Flammen. Ist die unglaubliche Hitze, die in Kanada und dem Nordwesten der USA zu Temperaturen von bis zu 50 Grad geführt hat. Es sind Ausblicke darauf, was es bedeuten wird, in der Realität des Klimawandels zu leben. Es sind Einblicke in eine Welt, die sich unter dem Einfluss des Menschen bereits spürbar verändert hat.

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Klimawandel: weit verbreitet, schnell und sich verstärkend

Wie genau, das zeigt der erste Teil des Sachstandsberichts des Weltklimarats (IPCC), der am heutigen Montag vorgestellt wurde. Der Report der Arbeitsgruppe I gehört zum 6. Sachstandsbericht, der 2022 veröffentlicht werden soll, und fasst das aktuelle naturwissenschaftliche Verständnis des Klimawandels zusammen.

Der Bericht ist eine wichtige Grundlage für kommende politischen Klimaentscheidungen, wie sie etwa auf dem UN-Klimagipfel, der Ende Oktober in Glasgow startet, getroffen werden müssen. 234 Expertinnen und Experten aus 66 Ländern haben daran gearbeitet, zitiert werden mehr als 14.000 Quellen.

Doch die wichtigste Botschaft lässt sich einfach zusammenfassen: Der Klimawandel und seine Folgen verstärken sich, sie sind weit verbreitet und schreiten rasant voran.

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Sollte es nicht unmittelbar zu schnellen und groß angelegten Reduktionen von Treibhausgasen kommen, dann sei das 1,5-Grad-Ziel oder sogar das Zwei-Grad-Ziel außerhalb der Reichweite. Oder wie das Deutsche Klimakonsortium es formuliert: 1. Der Klimawandel ist real. 2. Wir sind die Ursache. 3. Er ist gefährlich. 4. Die Fachleute sind sich einig. 5. Wir können noch etwas tun.

“Wir haben mit diesem Bericht den Realitätscheck geliefert“, fasst Veronika Eyring die Arbeit der Expertinnen und Experten zusammen, an der sie als koordinierende Leitautorin für das Kapitel zum menschlichen Einfluss auf das Klimasystem beteiligt war. Zu dieser Realität gehört:

  • Es ist eindeutig, dass der menschliche Einfluss die Atmosphäre, die Ozeane und das Festland erwärmt hat. Der Report zeigt, dass Emissionen von Treibhausgasen zu einer Erwärmung von etwa 1,1 Grad seit 1850 bis 1900 geführt haben. Diese Klimaerwärmung in dieser Geschwindigkeit ist in den vergangenen 2000 Jahren beispiellos. Es wird erwartet, dass im Durchschnitt der nächsten 20 Jahre die globale Temperatur 1,5°C Erwärmung erreicht oder überschreitet.
  • Der menschengemachte Klimawandel ist über lange Zeiträume hinweg beispiellos. „Viele Klimaveränderungen in der Atmosphäre, den Ozeanen und in den Eisgebieten erreichen immer neue Höchststände und verändern sich mit Geschwindigkeiten, wie wir es seit Jahrhunderten bis Jahrtausenden nicht beobachtet haben”, sagt Eyring, Professorin am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen. Die CO₂-Konzentration in der Atmosphäre war 2019 so hoch wie nie seit mindestens zwei Millionen Jahren. Die globale Oberflächentemperatur ist seit 1970 so schneller innerhalb eines 50-Jahres-Zeitraum gestiegen wie seit mindestens 2000 Jahren nicht. Der globale Ozean hat sich im letzten Jahrhundert schneller erwärmt als seit Ende des Jahres des letzten deglazialen Übergangs (vor etwa 11.000 Jahren).
  • Der menschengemachte Klimawandel betrifft bereits jede bewohnte Region dieser Welt. Er trägt zu vielen bereits beobachteten Veränderungen des Wetters und der Klimaextreme bei. Heißextreme wie etwa Hitzewellen sind häufiger und heftiger geworden. Die Zahl der Meereshitzewellen hat sich seit 1980 ungefähr verdoppelt. Auch die Zahl und Intensität der Starkregenereignisse hat zugenommen. Der Report geht außerdem davon aus, dass es wahrscheinlich ist, dass etwa das Auftreten von tropischen Wirbelstürmen in den vergangenen Jahrzehnten häufiger geworden ist.

Gerade bei Hitzewellen gab es sogar Ereignisse, wo wir sagen können: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie überhaupt auftreten, wäre ohne den Einfluss der Menschen auf das Klima null gewesen.

Sonia I. Seneviratne,

IPCC-Autorin

Neue Erkenntnisse zu Extremereignissen

„Im Wesentlichen bestätigt der Bericht die Aussagen der vorangehenden Berichte. Das zeigt, dass die Wissenschaft schon vor 30 Jahren die wesentlichen Entwicklungen korrekt vorhergesagt hat“, fasst der Klimawissenschaftler Mojib Latif den Bericht gegenüber dem Science Media Center zusammen. Das heißt aber nicht, dass der Sachstandsbericht keine neue Erkenntnisse liefern konnte.

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„Neu ist, dass wir jetzt viel mehr Veränderungen auf globaler und regionaler Ebene auf den menschlichen Einfluss zurückführen können“, sagt Eyring. Ist das „nur“ Wetter oder „schon“ Klimawandel? Die Frage, die nach jeder Flut, jeder Hitzewelle oder jeder Dürre gestellt wird, ist nicht einfach zu beantworten. Inzwischen aber können Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen immer besser darlegen, in welchem Maße der menschengemachte Klimawandel für dergleichen verantwortlich ist. „Gerade bei Hitzewellen gab es sogar Ereignisse, wo wir sagen können: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie überhaupt auftreten, wäre ohne den Einfluss der Menschen auf das Klima null gewesen“, erklärt Sonia I. Seneviratne von der ETH Zürich.

Klimawandel: Die Täterfrage ist beantwortet

Auch die Hauptfragen des Berichts haben sich weiterentwickelt. „Früher ging es um die Täterfrage: Wer ist schuld am Klimawandel?“, sagt Douglas Maraun von der Karl-Franzens-Universität Graz und Leitautor des Kapitels zur Verknüpfung von globalem und regionalem Klimawandel. Jetzt, wo das geklärt ist, hat sich der Fokus hin zu den Klimarisiken verschoben.

Erstmals enthält der erste Band des neuen Sachstandsberichts nun einen interaktiven regionalen Atlas, der die Klimarisiken einzelner Gebiete aufschlüsselt. Daran lässt sich erkennen:

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  • In ganz Europa werden – unabhängig vom zukünftigen Ausmaß der globalen Erwärmung – die Temperaturen mit einer Geschwindigkeit ansteigen, die die globalen mittleren Temperaturänderungen übersteigt. Die Häufigkeit und Intensität von Hitzeextremen hat sich erhöht und wird unabhängig von verschiedenen Emissionsszenarien weiter steigen. Die Häufigkeit von Frosttagen und Kälteperioden wird sinken. Unabhängig von allen künftigen Klimaschutzmaßnahmen werde der Meeresspiegel außer in der Ostsee an Europas Küsten mindestens so schnell ansteigen wie im globalen Mittel - auch über das Jahr 2100 hinaus. Gletscher werden sich deutlich zurückziehen, Permafrost wird auftauen, die Ausdehnung der Schneedecke sinken. Die Schneefallsaison wird in höheren Lagen kürzer.
  • Für West- und Zentraleuropa – wozu Deutschland zählt – wird, vereinfacht gesagt bei einer Erderwärmung auf 1,5 bzw. 2 Grad unter anderem eine Zunahme von Überschwemmungen und Dürren erwartet.

„Wir sehen ganz klar, dass Deutschland und Zentraleuropa sehr stark vom Klimawandel betroffen sind“, sagt Seneviratne, koordinierende Leitautorin des Kapitels zu den Extremereignissen. Sowohl in der Vergangenheit – aber auch in der Zukunft.

Angenehm sind die Prognosen für niemanden – egal an welchem Ort der Welt. Der Weltklimarat entwirft fünf Szenarien. Darunter sind zwei, in denen die Welt etwa 2050 Klimaneutralität erreicht und danach mehr CO2 speichert als ausstößt. Nur damit könnte der Anstieg der Mitteltemperatur Ende dieses Jahrhunderts bei 1,8 Grad oder darunter bleiben. Bei gleichbleibenden Emissionen bis 2050 würde die Temperatur Ende dieses Jahrhunderts um 2,1 bis 3,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau liegen. In zwei weiteren Szenarien mit mindestens der Verdoppelung der CO2-Emissionen bis Mitte des Jahrhunderts wäre ein Anstieg der Temperatur um bis 5,7 Grad möglich.

Vereinfacht kann man allerdings zusammenfassen: Je mehr Treibhausgase zukünftig ausgestoßen werden, desto schlimmer sind die Konsequenzen. „Viele Veränderungen im Klimasystem werden in direktem Zusammenhang mit der zunehmenden globalen Erwärmung größer“, heißt es in der Zusammenfassung für Entscheidungsträger. Dazu gehörten Hitzeextremen, Meereshitzewellen und Starkniederschläge, landwirtschaftliche und ökologische Dürren in einigen Regionen, tropische Wirbelstürme sowie eine Verringerung des arktischen Meereises, der Schneedecke und des Permafrosts.

Wenn die Politiker es ernst mit dem Pariser Abkommen meinen, dann ist jetzt der letzte Punkt, um zu handeln.

Sonia I. Seneviratne,

IPCC-Autorin

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Keine politischen Handlungsanweisungen, aber eine strenge Warnung

Der IPCC-Bericht der Arbeitsgruppe 1 gibt keine konkreten politischen Handlungsanweisungen. Aber natürlich ist die Aufforderung implizit in jeder Zeile zu erkennen: Es gilt, jedes Zehntelgrad Erderwärmung zu verhindern, jedes „bisschen“ Klimaschutz kann eine Wirkung haben. „Wir sind in einer Klimakrise, wir haben wirklich ein sehr großes Problem”, sagt Seneviratne. „Wenn die Politiker es ernst mit dem Pariser Abkommen meinen, dann ist jetzt der letzte Punkt, um zu handeln.“ Das bedeutet: “Wenn wir die Emissionen nicht schnell genug herunterfahren und bis etwa 2050-2070 netto-null erreicht haben, werden wir beide Pariser Klimaziele verfehlen”, sagt Mitautor Douglas Maraun von der Universität Graz.

Auf schnell spürbare Erfolge darf man sich allerdings dabei nicht verlassen. Auch das sei eine neue Erkenntnis des Berichts, erklärt Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Selbst wenn man die Emissionen jetzt ganz schnell herunterfahren würde, mache sich das erst nach fünf bis zehn Jahren in den CO₂-Konzentrationen bemerkbar. An der Veränderung der Oberflächentemperatur sogar erst nach 20 Jahren. „Das heißt also: Wir brauchen Geduld“, sagt Marotzke. „Die globale Gemeinschaft braucht einen langen Atem, um die Pariser Klimaziele einzuhalten.“

Eine Geduld, die sich jedoch immer weniger Menschen leisten können. Selbst wenn bei der UN-Klimakonferenz im Herbst ein dringend notwendiger Ruck durch die Staatengemeinschaft geht: Für die Menschen in der Türkei und in Griechenland, für die Toten in den Flutgebieten und die Nachbarn von Linne Nagell Ylvisåker kommt er zu spät.

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